So gut wie tot
zur Kanalfähre und nach Lewes. Dann entdeckte er zu seiner Erleichterung auch ein Schild nach Seaford, seinem Ziel.
»An der übernächsten Straße links abbiegen«, diktierte das Nävi.
Pewe runzelte die Stirn. Das Schild vorhin hatte eindeutig geradeaus gezeigt.
»Wer war das?«
»Wieder das Nävi. Willst du mich denn gar nicht fragen, wie mein erster Tag bei der Kripo Sussex gewesen ist?«
»Na schön, wie war dein Tag?«, knurrte sie.
»Ich bin sogar gewissermaßen befördert worden.«
»Schon wieder? Ich dachte, die Versetzung wäre bereits eine Beförderung gewesen. Vom Detective Chief Inspector zum Detective Superintendent.«
»Es ist sogar noch besser. Ich bin für alle ungelösten Fälle verantwortlich, auch die Vermisstenfälle.«
Sie sagte nichts.
Er bog nach links ab.
Der Straßenplan verschwand vom Display des Navigationsgerätes, und die Stimme befahl: »Bei der nächsten Möglichkeit bitte wenden.«
»Verdammter Mist.«
»Was ist denn los?«
»Mein Nävi weiß nicht, wo ich bin.«
»Ich kann’s ihr nachfühlen.«
»Ich muss dich zurückrufen, mein Engel.«
»Warst du das jetzt oder dein Nävi?«
»Sehr witzig!«
»Wie wäre es jetzt mit einem romantischen Essen für Euch beide?« Lucy hängte ein.
*
Zehn Minuten später hatte sich das Nävi wieder zurechtgefunden und lieferte ihn an der gewünschten Adresse in Seaford ab. Es war ein ruhiger Küstenort, der einige Kilometer von Newhaven entfernt lag. Pewe spähte im Dunkeln nach den Hausnummern und blieb vor einem kleinen, unscheinbaren Doppelhaus mit Kieselrauputz stehen. In der Einfahrt parkte ein Nissan Micra.
Er schaltete die Innenbeleuchtung ein, überprüfte den Sitz seines Krawattenknotens, strich sich die Haare glatt, stieg aus und verschloss die Tür. Als er durch den ordentlichen Vorgarten eilte, zerzauste ihm ein plötzlicher Windstoß schon wieder die Haare. Er klingelte und fluchte vor sich hin, weil es kein Vordach gab. Die Türglocke hörte sich an wie Totengeläut.
Kurz darauf wurde die Tür einige Zentimeter geöffnet, und eine Frau Anfang sechzig beäugte ihn misstrauisch durch ihre strenge Brille. Vor zwanzig Jahren, mit schicker Frisur und ohne Sorgenfalten, mochte sie recht attraktiv gewesen sein. Nun aber sah sie mit ihrem kurz geschnittenen, eisengrauen Haar, dem orangefarbenen Schlabberpulli, der braunen Synthetikhose und den Turnschuhen aus wie eine jener teigigen traditionellen Engländerinnen, die man an den Ständen der Kirchenbasare antrifft.
»Mrs Margot Balkwill?«, fragte er.
»Ja?«, erwiderte sie zögernd und schaute ihn weiterhin misstrauisch an.
Er zeigte seinen Ausweis. »Ich bin Detective Superintendent Pewe von der Kripo Sussex. Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich würde gern mit Ihnen und Ihrem Mann über Ihre Tochter Sandy sprechen.«
Ihr kleiner, runder Mund öffnete sich und entblößte gerade, altersgelbe Zähne. »Sandy?«, wiederholte sie schockiert.
»Ist Ihr Mann zu Hause?«
Sie überdachte die Frage. »Ja, das ist er.« Dann ließ sie ihn zögernd ein.
Pewe trat auf die Türmatte, auf der WILLKOMMEN stand, und gelangte in eine winzige, kahle Diele, in der es leicht nach Braten und stark nach Katze roch. Im Fernsehen lief eine Seifenoper.
Sie schloss die Tür hinter ihm und rief mit schüchterner Stimme: »Derek! Wir haben Besuch. Einen Polizisten. Einen Detective.«
Pewe strich sein Haar glatt und folgte ihr in ein kleines, makellos sauberes Wohnzimmer. Sitzgarnitur aus braunem Velours, Couchtisch mit Glasplatte, ein betagter Fernseher, in dem zwei Schauspieler, die ihm vage bekannt vorkamen, in einem Pub miteinander stritten. Auf dem Fernsehgerät stand das gerahmte Foto eines attraktiven blonden Mädchens von etwa siebzehn Jahren. Pewe hatte an diesem Nachmittag gründlich die Akte studiert und erkannte Sandy auf den ersten Blick.
Neben einer hässlichen viktorianischen Vitrine mit blau-weißem Porzellan saß ein Mann an einem kleinen Tisch, der sorgfältig mit Zeitungen abgedeckt war, und bastelte an einem Modellflugzeug. Auf dem Tisch waren Streifen von Balsa-Holz, Räder und Fahrwerksteile, ein Geschützturm und andere Kleinteile angeordnet, die Pewe nicht identifizieren konnte. Das Flugzeug selbst war schräg auf einen kleinen Sockel montiert, als befände es sich im Steigflug.
Pewe registrierte jede Kleinigkeit. Das elektrische Kohlefeuer und die Musikanlage, die eher nach Schallplatten als nach CDs aussah. Überall waren Fotos von Sandy in den
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