So gut wie tot
Taxifahrer folgte ihren Anweisungen. Es war eine ruhige Wohngegend in der Nähe des Eastbourne College. Abby betrachtete prüfend die Straßen und die geparkten Autos. Auch hier war nichts von ihrem Verfolger zu sehen.
Schließlich gelangten sie wieder in die breite Straße mit den roten Doppelhaushälften, an deren Ende, völlig unpassend, ein Mehrfamilienhaus aus den sechziger Jahren stand. Es war in Billigbauweise errichtet und nach vier Jahrzehnten salziger Kanalwinde nicht mehr besonders ansehnlich. Hier wohnte ihre Mutter.
Der Fahrer parkte in zweiter Reihe neben einem alten Volvo Kombi. Der Zähler zeigte vierunddreißig Pfund an. Sie gab dem Fahrer zwei Zwanzig-Pfund-Noten.
»Sie müssen mir helfen. Ich gebe Ihnen das Geld, damit Sie sichergehen können, dass ich nicht weglaufe. Behalten Sie das Wechselgeld, und lassen Sie die Uhr laufen.«
Er nickte verwirrt. Abby warf einen Blick über die Schulter, zögerte aber immer noch.
»Ich gehe jetzt ins Haus. Sollte ich in fünf Minuten, in exakt fünf Minuten, nicht zurück sein, rufen Sie bitte die Polizei. Sagen Sie, man hätte mich dort drinnen überfallen.«
»Soll ich nicht lieber mitkommen?«
»Nein, danke, es geht schon.«
»Ärger mit dem Freund? Oder dem Mann?«
»Ja.« Sie öffnete die Tür und stieg aus, wobei sie noch einen letzten Blick auf die Straße warf. »Ich gebe Ihnen meine Handynummer. Sollten Sie einen grauen Ford Focus sehen, vier Türen, gepflegt, Fahrer mit Baseballkappe, rufen Sie mich so schnell wie möglich an.«
Er suchte umständlich nach einem Stift und notierte mit unerträglich langsamen Bewegungen die Nummer.
Als er fertig war, eilte Abby zur Haustür, schloss auf und betrat den schäbigen Flur. Es war seltsam, wieder hier zu sein, wo sich anscheinend nichts verändert hatte. Das Linoleum im Flur war wie immer tadellos sauber, und die Briefschlitze quollen über von den Handzetteln italienischer, chinesischer, thailändischer und indischer Schnellrestaurants. Es roch nach gekochtem Gemüse und Bodenpolitur.
Sie warf einen Blick auf den Briefkasten ihrer Mutter und entdeckte besorgt, dass mehrere Umschläge hineingequetscht waren, als wäre der Briefkasten randvoll. Ein Mahnschreiben für Fernsehgebühren hing halb aus dem Schlitz heraus.
Die Post abzuholen gehörte für ihre Mutter zu den Höhepunkten des Tages. Sie war eine fanatische Anhängerin von Preisausschreiben und hatte mehrere einschlägige Zeitschriften abonniert. Sie hatte oft Glück. Viele Geschenke und sogar Urlaube, die Abby in ihrer Kindheit genossen hatte, stammten aus gewonnenen Preisausschreiben, genau wie die halbe Wohnungseinrichtung ihrer Mutter.
Warum hatte sie die Post an diesem Tag nicht geholt?
Besorgt rannte Abby durch den Flur zur Wohnungstür. In einer anderen Wohnung über ihr dröhnte der Fernseher. Sie klopfte an und schloss auf, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Hi, Mum!«
Stimmen erklangen. Der Wetterbericht.
»Mum!«, rief sie lauter.
Ein seltsames Gefühl. Seit über zwei Jahren war sie nicht mehr hier gewesen und wusste genau, wie sehr sich ihre Mutter erschrecken würde, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
»Abby?«, fragte Mary Dawson zutiefst erstaunt.
Sie ging durch die winzige Diele ins Wohnzimmer, wobei sie den Geruch von Feuchtigkeit und Körperausdünstungen bemerkte. Ihre Mutter saß auf der Couch, spindeldürr, die Haare strähnig und grauer als früher. Sie trug einen geblümten Morgenmantel und Pantoffeln mit Pompoms. Auf den Knien hielt sie ein Tablett mit Rosenmuster, das Abby noch von früher kannte. Darauf stand ein offener Becher mit Milchreis.
Auf dem Teppich waren Teilnahmeabschnitte für Preisausschreiben verstreut, auf dem großen Flachbildfernseher von Sony, ebenfalls ein Gewinn, liefen die Mittagnachrichten mit der Wettervorhersage. Der Fernseher stand auf einem Servierwagen’, den ihre Mutter auch gewonnen hatte.
Als Mary Dawson ihre Tochter erblickte, ließ sie das Tablett krachend zu Boden fallen.
Abby rannte auf sie zu und umarmte sie.
»Ich hab dich lieb, Mum, ich hab dich ja so lieb.«
Mary Dawson war immer klein gewesen, doch nun kam es Abby vor, als wäre ihre Mutter in den vergangenen beiden Jahren regelrecht geschrumpft. Ihr Gesicht mit den hellblauen Augen war immer noch hübsch, aber von neuen Falten durchzogen. Sie drückte ihre Mutter fest an sich, wobei ihre Tränen in Marys ungewaschene Haare rannen. Egal, sie roch nach Mutter.
Nachdem ihr Vater zehn Jahre zuvor nach
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