So gut wie tot
erzählen?«
»Später, versprochen. Wo wohnt sie?«
»Nummer vier, erster Stock.«
Abby eilte in den Flur, die Treppe hinauf und klingelte an der Wohnungstür.
Kurz darauf klapperte eine Sicherheitskette, und sie wünschte sich, dass ihre Mutter auch schon eine hätte. Eine hoch gewachsene weißhaarige Frau öffnete die Tür. Ihre ausgeprägten Gesichtszüge verschwanden teilweise hinter einer dunklen Brille, die von Größe und Form an eine Tauchermaske erinnerte. Sie trug ein elegantes Twinset.
»Hallo.«
»Ich bin Abby Dawson, Marys Tochter.«
»Na so was! Sie hat mir so viel von Ihnen erzählt. Ich dachte, Sie wären noch in Australien.« Sie öffnete die Tür und schaute Abby prüfend an, wobei sie ihr sehr nahe kam. »Verzeihen Sie, aber ich leide unter Makula-Degeneration. Ich kann nur noch aus einem Augenwinkel gut sehen.« Sie sprach sehr gewählt.
»Das tut mir leid«, sagte Abby, doch es drängte sie weiterzusprechen. »Sie könnten mir einen Gefallen tun. Ich muss für eine Stunde weg und – es ist eine lange Geschichte –, jedenfalls könnte ein alter Freund von mir hier auftauchen, der mich nicht in Ruhe lässt. Ich mache mir Sorgen um meine Mutter. Könnten Sie bei ihr bleiben, bis ich wieder zurück bin?«
»Natürlich, aber wäre es nicht besser, sie käme zu mir?«
»Schon, aber sie erwartet den Schlüsseldienst.«
»Ach so, dann bin ich in ein paar Minuten unten. Ich hole nur meinen Gehstock.« Dann fügte sie mit drohender Stimme hinzu: »Falls der Kerl auftaucht, wird ihm das noch leid tun!«
Abby lief wieder nach unten und erklärte ihrer Mutter die Lage. »Und du lässt niemanden außer Doris herein, bis ich wieder da bin.«
Dann eilte sie zum Taxi.
»Ich muss ein Handy kaufen«, sagte sie und warf einen Blick in ihre Tasche. Sie hatte noch achtzig Pfund in bar. Das sollte reichen.
*
Ricky hatte geschickt hinter einem Wohnmobil geparkt und wartete, bis das Taxi abgefahren war. Er ließ den Motor an und folgte dem Wagen in einigem Abstand.
Gleichzeitig stabilisierte er mit der anderen Hand das Intercept-Gerät, das auf dem Beifahrersitz stand, und hörte noch einmal den Anruf bei Eastbourne Lockworks ab. Er merkte sich die Nummer.
Eigentlich hatte er das Gerät nur mitgenommen, weil er es nicht im Lieferwagen lassen wollte, doch nun kam es ihm sehr zupass.
Er rief den Schlüsseldienst an und sagte in höflichem Ton den Termin ab. Die alte Dame, seine Mutter, habe eine Krankenhausuntersuchung an diesem Nachmittag vergessen. Er wolle sich später melden und einen neuen Termin für den nächsten Tag vereinbaren.
Danach rief er bei Abbys Mutter an, stellte sich als Geschäftsführer von Eastbourne Lockworks vor und entschuldigte sich überschwänglich für die Verzögerung. Seine Mitarbeiter seien zu einem Notfall gerufen worden. Sobald jemand frei sei, werde er kommen, aber frühestens am Abend. Wenn nicht, werde der Auftrag gleich am nächsten Morgen erledigt. Hoffentlich sei das kein Problem für sie. Sie erklärte sich einverstanden.
Das Taxi kroch langsam dahin, was die Verfolgung erleichterte, zumal es auffällig in Türkis und Weiß lackiert war. Nach zehn Minuten bog der Wagen in eine Einkaufsstraße und bremste mehrfach ab, bis er schließlich vor einem Telefonladen anhielt. Ricky schwenkte abrupt in eine Parklücke und beobachtete, wie Abby im Laufschritt das Geschäft betrat.
Er stellte den Motor ab, holte ein Mars aus der Tasche, da er plötzlich sehr hungrig war, und machte sich ans Warten.
73
OKTOBER 2007 Inspector Stephen Curry kehrte nach der Besprechung des Nachbarschaftsteams, die viel länger als geplant gedauert hatte, ins Büro zurück. Etwas ließ ihm keine Ruhe, eine unerledigte Sache, die ihm nicht einfallen wollte.
Der Termin hatte sich über die Mittagszeit erstreckt, und es waren viele Themen angesprochen worden. Unter anderem ging es um zwei Nichtsesshaftenlager in Hollingbury und Woodingdean, die Probleme bereiteten, und einen Geheimbericht über Jugendbanden, die durch ›Happy Slapping‹ aufgefallen waren. Diese gewaltsamen Zwischenfälle wurden immer bedrohlicher. Jugendliche filmten die Übergriffe und veröffentlichten die Aufnahmen als Trophäen bei Bebo oder MySpace. Einige der schlimmsten Angriffe hatten an Schulen stattgefunden und Kinder und besorgte Eltern in Angst versetzt, nachdem der Argus groß darüber berichtet hatte.
Inzwischen war es fast halb drei, und Curry hatte noch einen Berg Arbeit zu erledigen. Er musste
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