So gut wie tot
eine Seitentür in den winzigen Pausenraum folgte. An der Wand standen Stühle, davor ein niedriger Tisch, es gab einen Wasserkocher, eine Kaffeemaschine, einen kleinen Kühlschrank und eine Keksdose.
»Möchten Sie vielleicht etwas Wasser haben?«
»Ja, bitte.«
»Ich rufe erst ein Taxi, dann bringe ich Ihnen das Wasser.«
»Gibt es einen Seiteneingang, an dem mich das Taxi abholen könnte? Ich weiß nicht genau, ob ich es noch einmal durch den ganzen Laden schaffe.«
Er deutete auf eine Tür, die sie gar nicht bemerkt hatte. Darüber leuchtete ein Schild mit der Aufschrift NOTAUSGANG.
»Das ist der Mitarbeitereingang. Ich sage dem Taxifahrer Bescheid.«
»Vielen, vielen Dank.«
*
Zehn Minuten später kam Jason, um ihr zu sagen, dass das Taxi draußen warte. Abby trank das Wasser aus und ging mit schleppenden Schritten zur Tür. Sie kletterte auf den Rücksitz des Taxis und dankte dem jungen Verkäufer noch einmal für seine Hilfsbereitschaft.
Der Fahrer, ein älterer Mann mit weißem Haarschopf, schloss die Tür.
Abby nannte die Adresse ihrer Mutter in Eastbourne und ließ sich tief in den Sitz sinken, damit man sie von außen nicht erkennen konnte. Zusätzlich schlug sie den Kragen der Jacke hoch.
»Soll ich die Heizung höher stellen?«, erkundigte sich der Fahrer.
»Danke, alles bestens.«
Sie hielt Ausschau nach Ricky und dem Mietwagen, auf dem Parkplatz war nichts zu sehen. Als sie jedoch die Kreuzung mit der Hauptstraße erreichten, entdeckte sie den Ford Focus. Ricky stand neben der offenen Fahrertür und sah sich suchend um. Sein Gesicht unter der Baseballkappe war wutverzerrt.
Sie duckte sich und zog die Jacke über den Kopf. Abby wartete, bis das Taxi an der nächsten Abzweigung rechts abgebogen war, und spähte aus dem Rückfenster. Ricky hatte ihr den Rücken zugekehrt und schien den Parkplatz abzusuchen.
»Fahren Sie bitte so schnell wie möglich. Es gibt auch ein gutes Trinkgeld.«
»Ich tue mein Bestes«, sagte der Fahrer.
Im Radio lief klassische Musik. Verdi, der Gefangenenchor aus Nabucco. Ein Lieblingsstück ihrer Mutter. Ein seltsamer Zufall. Oder war es ein Omen?
Abby glaubte an Vorzeichen. Während ihr die religiösen Überzeugungen ihrer Eltern nichts bedeutet hatten, war sie schon immer abergläubisch gewesen. Wirklich seltsam, dass das Stück in genau diesem Augenblick lief.
»Schöne Musik.«
»Ich kann sie leiser stellen.«
»Nein, lauter bitte.«
Der Fahrer tat ihr den Gefallen.
Wieder wählte sie die Nummer ihrer Mutter. Als es klingelte, klopfte jemand auf ihrem Handy an. Es gab nur zwei Leute, die ihre Nummer kannten. Im Display erschienen die Worte »unbekannter Anrufer«.
Abby zögerte. Konnte es ihre Mutter sein? Unwahrscheinlich, aber …
Aber …
Sie zögerte noch immer. Schließlich meldete sie sich.
»Na schön, du Schlampe, sehr witzig! Wo steckst du?«
Sie hängte ein. Zitterte. Spürte wieder die Übelkeit im Magen.
Das Handy klingelte erneut. Wieder der unbekannte Anrufer. Sie drückte das Gespräch weg.
Noch einmal das gleiche Spiel.
Dann hatte sie eine Idee und wartete auf das nächste Klingeln. Doch das Handy schwieg.
71
13. SEPTEMBER 2001 Nichts hatte Ronnie auf das Bild der Zerstörung vorbereitet, das sich ihm bot, als er von der U-Bahn in Richtung World Trade Center ging. Er hatte geglaubt, dass seine Erlebnisse und die Nachrichtenbilder ihm einen Eindruck vermittelt hätten, doch als er es nun mit eigenen Augen sah, war er zutiefst erschüttert.
Es war kurz nach Mittag. Er hatte einen fürchterlichen Kater, nachdem er gestern mit Boris erneut versumpft war, und der Gestank, der in der staubigen Luft hing, machte es nicht gerade besser. Es war der gleiche Gestank, der seit zwei Tagen auch über Brooklyn lag, nur noch viel stärker. Ein Konvoi von Notfall- und Militärfahrzeugen fuhr langsam die Straße hinunter. In der Ferne ertönte eine Sirene, und man hörte das ständige Rattern der Hubschrauber, die über den Dächern der umliegenden Wolkenkratzer kreisten.
Immerhin war die Mühe, die er sich mit seinem neuen besten Freund gegeben hatte, nicht vergebens gewesen. Boris erwies sich als überaus nützlich. Der Fälscher, den er ihm empfohlen hatte, wohnte nur zehn Minuten von der Pension entfernt. Ronnie hatte einen schäbigen Raum auf einem Hinterhof erwartet, in dem ein hutzliger Greis mit Lupe und tintenschwarzen Fingern hockte. Stattdessen fand er sich in einem modernen Büro wieder, wo ihn ein gut aussehender, teuer
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