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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Der Kapitän drehte das Periskop, stellte es so ein, daß es die gesamte Stätte zeigte, an der die Zukunft Rache genommen hatte, die fünf Obstbäume, die als größte Früchtchen gehenkte Kriegsverbrecher trugen, und den leeren sechsten Baum, der noch auf diese Ehre wartete.
    *
    Allmählich erlosch Georges Bewußtsein.
    Teilnahmslos wie ein Autist sah er dem Dahinschmelzen der Eisuhr zu, geräuschvoll fielen die Tropfen, jeder so traurig und endgültig wie eine Träne, in ihr Zielgebiet. Plüsch, machten die Tropfen, platsch, und es blieb keine Stunde mehr.
    Dann nur noch eine halbe Stunde. Zwanzig Minuten. Zehn.
    An Bord der Donald Duck, vormals New York City, betrat Sverre den Periskopraum und suchte den Kontinent nach Kapitänleutnant Grass’ Obstgärtchen ab.
    Plitsch-platsch, machten die Tropfen.
    George hob den Blick. Über seinem Kopf breitete sich ein großer, roter Klecks aus. Die Zellendecke blutete. Der Fleck wuchs schnell, leckte mit nassen Zungen rundum.
    George dachte sich, daß er da den letzten unvermuteten Überraschungseffekt des Atomkriegs mitansehen durfte.
    Von oben fing eine dunkle Gestalt die blutige Eisdecke zu demolieren an. Eine Furche entstand, dann zeigte sich ein Flußdelta von Rissen. Splitter barsten aus der Decke, fielen auf Georges Schultern und Brust, versetzten seine Spermatiden in Panik.
    Die Erscheinung hackte unermüdlich auf das Eis ein, bis die Decke schließlich – mit einem Geräusch, das an den Laut eines verzweifelten Froschs erinnerte – der Länge nach entzweibrach. Eine Million Eisklümpchen hagelten in die Zelle, wie ein Blutregen rieselten rote Tröpflein herunter. Der Wind sauste mit einer Eisigkeit und Schärfe herein, als triebe er Rasierklingen vor sich her, heulte wie ein Annulliertenkind.
    Weshalb in diesem Moment keine Angehörigen des Antarktischen Gardekorps zur Tür eindrangen, blieb George ein Rätsel, das aufzuklären George gar keine Lust verspürte. Er grapschte sich sein Familienporträt, steckte es in die Hüfttasche seiner ARES-Montur und ratschte den Reißverschluß zu. Wenn Henker die Absicht hat, mit seinem tragbaren Raketengeschoß im Gürtelhalfter zu sterben, überlegte George, will ich mit meinem Leonardo in der Hand sterben.
    Ein riesiger Geier einer lange für ausgestorben gehaltenen Art schwang sich durch die zertrümmerte Decke abwärts und auf den Fußboden herab.
    So, man hat die Hinrichtungsmethode geändert, dachte George. Ich werde nicht gehängt, sondern aufgefressen. Wahrscheinlich geht das sogar schneller.
    Der Teratornis stieß ein Kreischen aus. Aus seinem Schnabel schwappte Blut wie Suppe aus einer Terrine. Sein schäbiges Gefieder schien mit aus Eis gepreßten Juwelen gespickt zu sein.
    Erst als George einen Menschen in ARES-Montur im Nacken des Geiers sitzen sah, erkannte er, daß hier etwas anderes als eine Hinrichtung seinen Lauf nahm.
    »Steig auf«, rief die Person, zog den Helm ab, so daß ein Schopf roten Haars hervorquoll. »Ich halte dich noch immer für unschuldig«, sagte Morning Valcourt. Sie warf George eine Schutzbrille und einen Parka zu, dessen Kapuze gefüttert war mit Vielfraßfell.
    »Du hast ihn gezähmt?« fragte George. »Du lieber Himmel!«
    »Psychologie-Lehrheft Hunderteins, Thema: Operante Konditionierung. Normalerweise für Tauben, aber es klappt auch bei Geiern.«
    Als Morning sich den Helm wieder aufsetzte, dröhnten Schritte durch das Gangsystem außerhalb der Zelle. George hörte Geschimpfe.
    Indem er nacheinander die Fäuste um Federbüschel krallte, sich daran hinaufklammerte, erkletterte Georgeden linken Flügel des Riesengeiers. Der Vogel stank. Er stierte George aus einem Auge an, das vulkanischer Asche ähnelte. George schwang sich in seinen dürren Nacken und schlang die Arme um Mornings Taille.
    »Die Decke war voller Blut«, sagte er zu Morning.
    »Von einer toten Robbe, damit unser gefiederter Freund das Eis zerhaut. Infolge der Freßwut, verstehst, du? Halt dich fest!«
    Die Zellentür flog auf, krachte gegen die Wand. George blickte hinab. Er sah einen Gardisten mit einem Gewehr in der einen und einer Pistole in der anderen Hand. Wie ein schwarzes Wadi verlief ihm eine Narbe von der Stirn bis zum Mund, den er momentan vor Staunen weit aufriß.
    Der Geier schlug mit den Flügeln, und die Ausreißer schwebten auf seinem Rücken empor in die trübe Morgendämmerung.
    Im Innenhof tummelten sich Gardisten, ihre Laternen und Fackeln huschten umher wie übergeschnappte Glühwürmchen.

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