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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Lichtschein glänzte auf Schußwaffen. Gewehrschüsse peitschten durchs Düstere, zischten durch den Schwanz des Teratornis, so daß ausgerupfte, große Federn abwärtssegelten. Eine Kugelbohrte sich in Georges Stiefelabsatz, eine zweite zerfledderte den Pelzbesatz seines Parkas. Der Geier kreischte, geriet ins Schlingern, aber hielt sich in der Luft. Dutzende von nur schattenhaft sichtbaren, bewaffneten Protestlern, die durchs Tor in den Innenhof drängten, eröffneten ihrerseits das Feuer auf die Gardisten. FREIHEIT FÜR PAXTON, stand auf ihren Spruchbändern. KEINE SYMBOLISCHEN HINRICH-TUNGEN. Laut jubelten die Protestler, während die Flüchtigen hoch über das Scharmützel aufstiegen. Schüsse knallten, Kugeln schwirrten, Körper wumsten aufs Eis, schwarzes Blut sprudelte aus ARES-Monturen, die Schreie der Getroffenen mischten sich mit dem schrillen Gekreische des Geiers. O du kostbarer Vogel, dachte George, du aasfressender Engel, der du kühner als der Aar bist, vollkommener als ein Roß, Leonardo hätte dich nicht zu fürchten brauchen. Mit einem kraftvollen Emporschwingen seines aller Kreiselsteuerung baren Leibs überflog der Teratornis die Mauern des Eispalasts. Indem er über einen Turm hinwegglitt, streckte die Beine, spreizte die Krallen und zerschlitzte die antarktische Nationalfahne zu einem Dutzend flattriger, schmaler Bändchen.
    Ihr Plan ist geglückt, lautete Kapitän Sverres Schlußfolgerung, als feststand, daß Juan Ramos kein sechstes Mal zu dem weißen Eisbär-Raupenfahrzeug ging. Sverre lächelte, freute sich darüber, daß er die letzte Fahrt nicht in Diensten der Urheber der McMurdo-Sund-Konvention und nicht zugunsten ihres Schauprozesses unternommen hatte. Er drehte das Periskop und sah einen Suchtrupp über den Nimrod-Gletscher ausschwärmen, die Laternen hüpften zwischen den Eishügeln wie Irrlichter. Er spähte hinüber zum Plateau, sein Blick erhaschte einen schwarzen, bedrohlichen Umriß, der vor den südlichen Sternbildern kreuzte. Ein russischer Kugelblitz-Marschflugkörper? Nein, ein Teratornis. Eine Jungfrau wird empfangen und eine Spezies gebären. Flieg, George. Flieg, Morning…
    »Flieg, Teratornis!« schrie George.
    Obwohl er hinlänglichen Anlaß zu der Sorge hatte, seine Flucht könnte nur ein Trugerlebnis sein, der Wachtraum eines Todeskandidaten, verdeutlichten die beiläufigen Unerfreulichkeiten des Flugs George auf überzeugende Weise, daß er Realität erlebte. Auf einem Vogelrücken durch die Lüfte zu kreisen, erwies sich als weit weniger traumhaft, als er es sich vorgestellt hätte. Teratornis- Geierwaren anscheinend flugtüchtige Ökosysteme, ihr Gefieder strotzte von Parasiten – Flöhen und Milben – sowie den Schmarotzern von Parasiten. Der Wind schmetterte ihm ins Gesicht,drang ihm schier unter die Haut und höhlte eiskalte Mulden in seine Knochen. Die Halswirbelsäule des’ Vogels war zu hart für das Futter der ARES-Montur und zerscheuerte ihm die Oberschenkel. Geruch nach schleimigem Geierschweiß, das Odeur von in der Sonne liegengebliebenem Aas, wehte ihm in die Nase. Ja, das alles erduldete er wirklich.
    »Wohin fliegen wir?« rief er, sich insgeheim sicher, er müßte jeden Moment abstürzen, durchs nachgerade hysterische Gejaule des Winds Morning zu.
    »Über den Pol«, antwortete Morning. »Zum U-Boot.«
    »Zum U-Boot?«
    »Es ist auf See gewesen. Sverre ist in den Pazifik ausgelaufen, hat das Getz-Eisschelf umrundet und…«
    Ihre restlichen Worte verwehte der Sturmwind.
    Sie waren frei! Sie konnten an Bord des U-Boots gehen, zu den Zeitfalten fahren, Gegenden suchen, in denen noch Blumen blühten und auf gewellten Hügeln dicke Matten aus Gras wuchsen. Frei… Unvermeidlich, unaufhaltsam kreiste erneut sein psychisches Museum durch Georges Gehirn. Er sah Morning zum Zeitpunkt der Entbindung, die nasse Nabelschnur des : Neugeborenen, sein unerwartet dichtes Haar, die winzigen Händchen, Arabesken aus Runzeln.
    Morning gab dem Geier einen Klaps gegen den Hals. Er schwenkte seinen Schnabel aus der Richtung der Endurance-Klippen auf den Gletscherkamm zu, hinter dem das Königin-Alexandra-Gebirge und, noch weiter entfernt, auf dem kolossalen polaren Plateau, das Land Zehntausender von Südpol-Gehennas, ungezählter Eishügel sowie der trostlose, gottverlassene Punkt lagen, von dem aus ein Reisender sich nirgends als nach Norden hinwenden konnte.

 
KAPITEL 18
     
    Worin unser Held und seine Auserwählte einen Eisgarten und einen Garten der Lüste

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