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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Gegen Abend hatten die Flüchtigen den Südpol erreicht, eine Fläche offenen, ebenen Hochlands, über der das dunkle Firmament wie ein Vorhang stand, auf der Schnee zu Wellen gefroren war, die regelrechten Wogen glichen. Ventilatoren und Antennen ragten aus den Sastrugi, Merkmale des unterirdischen Außenpostens mit der Bezeichnung Neue Amundsen-Scott-Station. George und Morning banden ihren Teratornis an einen Schornstein.
    Am genauen Endpunkt der Erdachse hatte irgendwer eine Spiegelkugel der Sorte hinterlassen, wie sie früher in Diskotheken unter der Decke rotiert hatte. George hielt sie sich vor den Bauch. Fühlte sich so Schwangerschaft an?
    »Hier krieg ich meine Zeugungsfähigkeit zurück«, sagte er. »Inzwischen hab ich wieder Millionen von Spermatiden, aber solange sie nicht in meine Epididymis gelenkt werden, können sie nicht ausreifen.«
    Mornings Achselzucken, ihr Stirnrunzeln, das Verkneifen ihrer Lider – ja, darin kam eine gewisse Skepsis zum Ausdruck, aber in der Hauptsache war sie nach seinem Empfinden neugierig. Sie wünschte ihm Glück. Gut, dachte er, sie ist für alles aufgeschlossen. Wir wissen ja nicht, zu welchen Weisheiten uns die Zukunft verholfen hätte, zu welchen Durchbrüchen in der Pilztherapie und geomagnetischen Heilmethoden.
    Er preßte sich die Diskokugel fester in die Magengrube. Sein Unterleib zitterte. Begehe ich eine der ärgsten Sünden, die Unitarier kennen, die Sünde des Selbstbetrugs? Nein, spürbar geschah in seinen Keimdrüsen etwas, eine Spermatidenwanderung großen Umfangs setzte sich in Bewegung. Aus dem Eis traten Gespinste aus Licht hervor, bildeten winzigkleine, diamantenähnliche Satelliten, die sich um die Diskokugel in eine Umlaufbahn einfädelten, tausend funkelige Monde folgten den eigenen Spiegelungen. George spürte die Fröhlichkeit seiner Spermatiden, sie erinnerte an den Übermut von Kindern, die eine Flutwelle auf den Sandstrand spülte. Angelockt durch den Magnetismus der widerstandsfähigen Mutter Erde, nahm der unreife Same seinen Weg. Er drang in die Epididymis vor. Dort konnten die Spermatiden sich vervollkommnen und lernen, mit ihren putzigen, neuen Schwänzchen zu wedeln. Beizeiten würde, wie er sich aufgrund des Biologiebuchs entsann, das er im U-Boot gelesen hatte, reichliche Flüssigkeit der Samenbläschen ein Verdünnen ihrer Ansammlung bewirken – was für ein genialer Techniker Gott doch war! – und sie auf neue, aufregende Fahrt schicken: Vas deferens, Ureter, Vagina, Gebärmutterhals, Eierstock, Gebärmutterwand. Weil nur eine seiner im Entwicklungszustand befindlichen Spermien die Bestimmung hatte, sein Kind zu zeugen, mußten der gesamte Rest eine andere Aufgabe erfüllen, nämlich mit ihrem dem Protein abträglichen Enzym die Hülle der weiblichen Eizelle, wenn sie davon abprallten – Poch-poch-poch-poch –, zur Vorbereitung auflockern und so die störenden Außenschichten aufweichen.
    Poch-poch.
    Wer ist da?
    Aubrey Paxton.
    Die Winzlinge von Monden stoppten in ihrer Bahn, ihre Existenz erlosch, George senkte die Spiegelkugel zurück aufs Eis.
    Mit dem zu ihrer ARES-Montur gehörigen Sturmgewehr hatte Morning zwei Raubmöwen geschossen. Ein Kadaver lugte aus ihrem Tornister. Den zweiten hatte der Teratornis im Schnabel, das Mahl jedoch schon im nächsten Moment verschlungen – Schnapp, Schluck –, obwohl es vielleicht noch nicht lange genug tot war, um ihm zu schmecken, aber er beschwerte sich nicht.
    »Ich glaube, ich bin geheilt«, sagte George. In seinen Epididymis, ihrem wahren Zuhause, tollten Spermatiden.
    »Du bist ein Mann mit bewundernswertem Ehrgeiz«, antwortete Morning.
    Beide folgten sie dem Lichtstrahl ihrer Stablampe eine schräge, hölzerne Rampe hinab ins Innere der Station. Rechts und links vom Hauptstollen zweigten Seitengänge ab, fünfundzwanzig Meter lange, mit gewölbten Segmenten zerfressenen Stahls gedeckte Gräben. Als sie sich umblickten, standen sie inmitten eines Sammelsuriums von Funkgeräten und meteorologischen Instrumenten. Dort rupften sie die Raubmöwe und kochten sie auf dem Primuskocher aus Mornings Tornister. Im Handumdrehen hatten sie sie verzehrt. Benommen vor Müdigkeit drückten sie ihre kalten Lippen aufeinander, küßten sich, ohne es zu spüren, umfingen einander mit einer ungeschlachten antarktischen Umarmung. Dann schliefen sie.
    Ein freudlos düsterer Morgen brach an.
    »Ich sehe Hoffnung«, sagte George.
    »Lasarew liegt rund zweitausendzweihundert Kilometer

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