So muss die Welt enden
plötzlich vor einem offenen Zugang zum Raketenbunker. Matrosen hasteten hin und her. Henker knöpfte sich den erstbesten Offizier vor, den er sah, einen sommersprossigen Kapitänleutnant namens Grass.
»Mister Grass, ich dachte, um vierzehn Uhr sollten die Raketen gestartet werden.«
Der junge Offizier versäumte es, Henkers Gruß zu erwidern.
»Die Wiedereintritts-Projektile sind nicht einsatzbereit«, sagte er.
»Nicht einsatzbereit? Was für eine Art von Saftladen managen Sie eigentlich hier, Mister? Kapitän Sverre wird Ihnen die Eier schleifen.«
Nun salutierte Grass. Allerdings verwendete er die verkehrte Hand. Er trat vor George und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Sind Sie das nicht gewesen, der erzählt hat, er wäre vorige Woche fast ins Wasser geschossen worden? Echt ulkig. Ungelogen.«
Das Evakuierten-Trio folgte Grass ins mit einer Höhle vergleichbare, von Echos durchgeisterte Silo.
»Beinahe wäre ich erstickt«, sagte George.
»Das wird vielleicht der Zweck gewesen sein«, sagte Grass.
Die sechsunddreißig Abschußrohre, überwältigend in ihren Abmessungen, in ihrem Metallglanz atemberaubend, ragten zur Decke empor wie Reihen altägyptischer Säulen. Wirklich erinnerte der Raketenbunker an nichts so sehr wie an eine technizistische Nachäffung des Tempels von Karnak. George wagte sich nur gebeugt näher, so tief beeindruckte ihn die erhabene Majestät der nationalen Sicherheit. Im Tempel betätigten sich Anbeter. Auf Gerüste gekauert, an sie geklammert, tummelten Matrosen sich an den Abschußrohren auf und ab, schraubten Abdeckplatten los und ließen sie an Stahlseilen hinunter auf Deck.
»Warum werden die Abschußrohre geöffnet, Mister Grass?« wollte Henker erfahren.
»Um an die Geschoßspitzenummantelung gelangen zu können«, antwortete Grass.
»Wozu denn das?«
»Um an die Sprengköpfe zu kommen.«
»Weshalb?«
»Um uns die Zündvorrichtungen vorzunehmen.«
»Wieso?«
»Um den Scheiß wegzuhauen.«
Henker steckte sich einen Finger ins Ohr und bohrte im Gehörgang. »Verzeihen Sie, Mister, aber die elektromagnetische Strahlung der Explosion über Omaha muß wohl meine Löffel geschädigt haben. Mir war, als hätten Sie gesagt, Sie möchten die Sprengköpfe entschärfen.«
»Die Dinger sind gefährlich, Generalmajor. Wenn eins beim Start detoniert, könnte jemand verletzt werden.«
Am Oberende des nächstbefindlichen Abschußrohrs sah man eine Gruppe von Wiedereintritts-Projektilen. Jedes glich einem Hexenhut, war schwarz, konusförmig und beschmiert mit seltsamen Ölen.
»Sie haben vor, unscharfe Raketen abzufeuern?« fragte Randstable, wölbte befremdet die Brauen. »Irgendwie entgeht mir eine wichtige Komponente Ihres strategischen Kalküls, Leutnant.«
»Wie Sie ohne Zweifel wissen, Dr. Randstable, hat an Bord eines U-Boots jeder Kubikzentimeter Raum größten Wert.« Jungenhaft lächelte Grass. »Sobald ich diese vielen Treibsätze und Nutzlasten abgestoßen habe, steht mir endlich der Platz frei, um Apfelsinenbäume zu ziehen.« Er zwinkerte. »Projekt Zitrusfrucht.«
»Apfelsinenbäume?!« Henkers Stimme dröhnte durch den ganzen prachtvollen Tempel. »Apfelsinenbäume, das ist ja wohl der Abschuß!«
Die Matrosen unterbrachen ihre Tätigkeit. Von oben schauten sie auf ihn herab.
»Sie können sich bestimmt denken, Generalmajor, daß Apfelsinen auf dem Grund des Atlantiks schwer erhältlich sind«, sagte Grass. »Wenn Sie mich fragen, Umstellung auf Obstbäume dürfte der Trend der Zukunft sein.«
Die Matrosen setzten, fleißig wie Ameisen, die über ein hingefallenes Eis schwärmten, ihre Abrüstungsmaßnahmen fort.
*
Korvettenkapitän Olaf Sverre hatte eine Weltuntergangssammlung. Sein Hobby war die Apokalypse. Wenn kein Gin ihn lahmlegte oder er seemännischen Aufgaben nachgehen mußte, kramte er in der Bordbibliothek nach einer neuen Vision des Weltgerichts, und wenn er auf eine stieß, knüttelte er darüber ein schlechtes episches Gedicht. Feuer, Eis, Hungersnot, Überschwemmung, Dürre, Umweltverpestung, Krieg - Sverre hatte alles in seiner Sammlung. In seinem Poem Noah und Naamah hatte er über die vierzigtätige Sintflut geschrieben, in der die Sünder der Erde ertranken, über den weißen Raben, den Noah auf Suche nach Land schickte, und darüber, wie der schneeweiße Vogel statt dessen einen Leichnam entdeckte, der im Wasser trieb, und davon fraß, und daß er seitdem ausschließlich schwarzes Gefieder trug. In dem Epos Yma der Siegreiche hatte
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