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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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der Meinung, wir sollten Anklagepunkt um Anklagepunkt auf Freispruch plädieren.«
    Er ist noch so jung, dachte George. Sie haben zu unserer Verteidigung ein Kind geholt.
    »Ja, ein Plädoyer auf Freispruch ist bestimmt die aussichtsreichste Strategie«, brabbelte Randstable halblaut. Er wandte sich an seine zukünftigen Mitangeklagten und vollführte weitschweifige, unbeholfene Gebärden, als hoffte er, damit könnte er sie beschwichtigen. »Ich will’s mal so ausdrücken. Ein nichtexistentes Photon kann Energie von der Unschärfe-Relation ausborgen, um ein echtes Positron-Elektron-Paar zu bilden, das die Entstehung des Photons storniert, von dem es vorher geschaffen worden ist.«
    »Klingt wie Hexerei«, bemerkte dazu Sparren.
    »Nein«, erwiderte Randstable. »Das ist Physik.«
    Mit bedächtiger Erpichtheit leckte Bonenfant sich restliche Matsche des Zitronenbaisers von den Lippen. Offenkundig verbanden die Annullierten mit jeder Annehmlichkeit eine gewisse Furcht vor dem Zukurzkommen. Er erklärte, daß er, wäre er auf normalem Weg ins irdische Dasein geboren worden, in Philadelphia wohnhaft und als Rechtsanwalt tätig gewesen wäre. Er hätte Kindesmörder und Neonazis verteidigt.
    George stand auf. »Ich möchte gerne hier und jetzt feststellen, daß ich…«
    Das Ereignis, das ihn daran hinderte, mit Nachdruck das Wort ›unschuldig‹ auszusprechen, und sich so unversehens ergab, wie ein Pfeil einen Vogel im Flug trifft, war das plötzliche Eindringen der Offiziere und Mannschaften der Donald Duck, Kapitänleutnant Grass’, Leutnant zur See Max’, Leutnant zur See Moritz’, Oberleutnant zur See Brusts, Obermaat Rushs sowie zweihundert weiterer Besatzungsmitglieder. Sie kamen die Wendeltreppe herabgetrampelt, stürmten als aufgebrachter Mob rücksichtslos das Kasino.
    Die Offiziere, die allen voran hereingedrängt hatten, schnappten sich von der Festtafel Steakmesser und fügten sich damit Schnitte zu, reichten dann die Messer den Matrosen, die nur darauf warteten. Der Lichtschein der Kerzenleuchter glomm in den Rinnsalen ihres schwarzen Bluts. Ein Gestank erfüllte das Kasino, als hätte man Schwefel angezündet. Annulliertenblut spritzte in Weinkelche, glasierte den Nachtisch; es besprenkelte Wengernooks Stirn, verklebte Sparrens Haar, sickerte über Randstables Wangen, verfilzte Overwhites Bart, besudelte Henkers Hände und rann in Georges Schoß.
    »Wir wollen leben«, riefen die Annullierten. »Laßt uns ein!«
    In der Mitte der Festtafel sammelte sich ein Bluttümpel. Er strudelte und brodelte, sprühte wie ein Vulkan. Indem Max und Moritz in die Richtung des Blutmahlstroms gestikulierten, erlangte darin etwas Gestalt – aus der unheimlichen Substanz erhob sich lotterig eine Art von ebenholzschwarzer Skulptur.
    Ein kleines Schafott mit Galgen. Eine Miniaturschlinge. Ein kleiner, etwa einen halben Meter langer Leichnam, der darin baumelte wie eine Puppe, das Gesicht verquollen, die Zunge zuckte auf schwarzen Lippen. Wie beim Rückwärtslauf des Films einer im Schmelzen begriffenen Statuette bildeten sich nach und nach, unter viel Triefen, Gesichtszüge heraus, Augen, Nase, Mund.
    George grabbelte in seiner Tasche und zog seinen Leonardo hervor. Das ist meine Familie, sagte er sich. Keine annullierten Generationen können sie mir nehmen.
    »Erster Anklagepunkt: Verbrechen gegen den Frieden!« schrie Leutnant Max.
    »Zweiter Anklagepunkt: Kriegsverbrechen!« brüllte Leutnant Moritz.
    »Dritter Anklagepunkt: Verbrechen gegen die Menschheit!«
    »Vierter Anklagepunkt: Verbrechen an der Zukunft!«
    Der dargestellte Leichnam hatte Wengernooks Gesicht bekommen. Es weinte tintenschwarze Tränen.
    Die beiden miteinander verwandten Leutnants pusteten auf das Schafott. Das schwarze Triefgesicht unterzog sich einer Veränderung. Nun wurde Randstable wegen Kriegsverbrechen hingerichtet. Dann Sparren. Danach Overwhite. Und Henker Tarmac.
    »Sie versuchen uns nur einzuschüchtern«, sagte der Generalmajor.
    »Und mit Erfolg«, antwortete Randstable.
    »Alles was sie wollen«, meinte Overwhite, »ist eine Erklärung.«
    George senkte die Lippen auf die Glasmalerei, küßte Hollys Halbschwester. Er blickte die Leichenpuppe an und sah das, was – wie er schon wußte – daß es bevorstand: eine unerbittliche Umformung von Henkers in George Paxtons Gesicht. Er hatte sich stets gewünscht, seine Nase wäre schmaler. Es wird eine Geburt geben, schwor er sich. Es wird uns eine Aubrey Paxton geboren. Nostradamus hat was

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