So nah bei dir und doch so fern
verletzt war, als ihre Mutter die Familie im Stich ließ und ein neues Leben mit Dave begann. In Wirklichkeit hatte sich Mark mir gegenüber immer treu und hilfsbereit gezeigt, außer bei dem einen Fehltritt zu Beginn unserer Beziehung, als wir noch jung waren, doch tief in mir gab es eine bohrende Stimme, die nicht verstummen wollte. Während ich auf der Intensivstation lag, wuchs meine Paranoia ins Unermessliche.
KAPITEL 6
Die größte Erniedrigung
I ch war so vollgepumpt mit Medikamenten, dass ich nur wenige Erinnerungen an diese ersten Tage auf der Intensivstation habe, doch die vorherrschenden Gefühle waren Angst und Frustration. Angst, dass niemand mir erzählte, wie es um mich stand, und Frustration, weil ich von einer unabhängigen, aktiven Frau auf eine hilfsbedürftige Krankenhauspatientin reduziert worden war, die von den Launen des anscheinend überarbeiteten Personals abhing.
In dieser Zeit stellte ich fest, dass die Ärzte und das Pflegepersonal der Intensivstation bei der Überwachung von Geräten und Maschinen, bei der Verabreichung von lebensrettenden Medikamenten und dem Im-künstlichen-Koma-Halten von vom Tode bedrohten Patienten effizient und qualifiziert sind. Im Umgang mit den Kranken jedoch gibt es gewaltige Defizite. Wenn man dauernd mit Menschen zu tun hat, die im Koma liegen oder hirntot sind, hat man wahrscheinlich kaum Gelegenheit, seine sozialen Kompetenzen zu pflegen.
Tagein, tagaus waren sie damit beschäftigt, Krankenblätter auszufüllen, Daten festzuhalten, Protokolle zu schreiben und mein Überleben zu sichern, aber niemand bemerkte, dass ich mitbekam, was sie sagten. Sie gingen einfach davon aus, ich sei hirntot und außerstande, irgendetwas zu erfassen, das um mich herum geschah. In einer Krankenstation, in der Patienten täglich starben oder gerade noch vorm Tode gerettet wurden, fühlte sich das Eingeschlossensein manchmal schlimmer an, als tot zu sein.
Zunächst einmal hatte ich ständig Schmerzen. Mein Körper tat weh, Krämpfe peinigten Arme, Beine und Hals und verursachten Höllenqualen. Mein Hintern war vom langen Liegen wund, die Füße brannten und litten unter den Schienen, die sie in gerader Haltung fixierten. Ich lag dort und hatte alle Zeit der Welt, mich in meinen Schmerzen zu ergehen. Ich spürte, wie der Krampf in einem Fuß begann, und biss innerlich die Zähne aufeinander, um den brennenden Schmerz auszuhalten, wenn er das Bein hochraste. Zu Hause hatte ich Mark manchmal mitten in der Nacht aufgeweckt, weil ich im Schlafzimmer herumhüpfte, um einen Krampf loszuwerden, auf der Intensivstation jedoch war ich machtlos. Verzweifelt versuchte ich, die Aufmerksamkeit der Schwestern zu erregen, indem ich ihnen mit meinem Blick im Raum folgte und sie anflehte, die Agonie wahrzunehmen, in der ich mich befand.
»Bitte helfen Sie mir. Bitte, es tut so schrecklich weh. Aaaaah!!!«, brüllte ich im Geiste, während ein erneuter Krampf meinen Körper durchzuckte. Doch meine stummen Schreie und flehenden Blicke blieben ungehört und unbemerkt, woraufhin erneute Tränen der Frustration und des Schmerzes flossen.
Wenn der Tod das Ende all dieser Höllenqualen bedeutet, dann soll er kommen, dachte ich, am tiefsten Punkt angelangt, und beschäftigte mich mit den schrecklichen Möglichkeiten, wie ich das Zeitliche segnen könnte. Die Vorstellung, eine Spritze mit der Überdosis eines Medikaments zu bekommen, wie ein Tier, das von seinem Leiden erlöst wird, erschien mir falsch. Ich spielte die imaginäre Szene durch, wie eine Schwester oder ein Arzt neben mir sitzt und die tödliche Dosis verabreicht. Es gefiel mir nicht, denn ich fand, ich sollte zu meinen Bedingungen sterben. Ich wollte, dass jemand meinem jämmerlichen Leben ein Ende machte, den ich liebte.
Mark sollte derjenige sein, der an meiner Seite saß, wenn ich den letzten Atemzug tat. Ich war nicht in der Lage, ihm diesen Wunsch zu vermitteln, doch tief in mir hatte ich das Verlangen, er solle mir ein Kissen aufs Gesicht drücken. Ich konnte mich ja nicht wehren, und so würde ich in einen schmerzfreien ewigen Schlaf hinübergleiten. Meiner Familie und meinen Freundinnen ginge es ohne mich besser als mit mir in diesem Zustand. Sie würden um mich trauern, doch mit der Zeit würden sie den Verlust verarbeiten, ihr Leben weiterführen und mich als jene Frau in Erinnerung behalten, die ich einmal gewesen war: quirlig und voller Tatendrang.
Zu diesen Depressionen kam noch Müdigkeit hinzu. Seit ich aus dem Koma
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