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So nah bei dir und doch so fern

So nah bei dir und doch so fern

Titel: So nah bei dir und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Allatt
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konnte die Männer oder Frauen entfernt lachen und schwatzen hören. Zwar verstand ich nicht, was sie sagten, aber ich bekam mit, dass sie Spaß hatten. Verzweifelt wünschte ich, einbezogen zu werden. Ich wünschte aus ganzem Herzen, die Schwestern und Pfleger würden mich behandeln, als wäre ich ein realer Mensch – nicht irgendeine hilfsbedürftige Nervensäge, die ihre tägliche Routine unterbrach.
    Jeden Morgen um acht Uhr erschienen zwei Schwestern mit einer Wasserschüssel und einem Waschlappen und zogen die Vorhänge um mein Bett. »Wie geht’s uns denn heute?«, sagten sie mit gönnerhafter Stimme, als sprächen sie zu einem Kleinkind. Ich blinzelte heftig, meine Art, ihnen zu vermitteln: »Verpisst euch und lasst mich in Frieden!« Doch es blieb unbemerkt, und so fuhren sie fort, mich auszuziehen, von einer Seite auf die andere zu rollen und mir Seife und Wasser in jeden Winkel meines Intimbereichs zu reiben.
    Als sie das erste Mal meine schmutzige Windel wechselten, war es am schlimmsten für mich, doch es wurde kaum erträglicher. Ich schloss jedes Mal die Augen und versuchte, die Erniedrigung auszublenden. Nach zwanzig Minuten endete die Routinehandlung damit, völlig mit Feuchtigkeitscreme zugekleistert und in ein frisches Nachthemd gesteckt zu werden. Manche Nachthemden waren alt und weich, andere neu, gestärkt und steif. Ich hoffte immer auf ein altes, denn in ihnen lag es sich angenehmer.
    Im Laufe der Zeit begann ich, diesen verdrehten Verwöhnakt zu genießen. Normalerweise hatte ich morgens nie genügend Zeit, meiner Haut Lotions und Wässerchen zu gönnen, denn ich musste mich sputen, drei Kinder für die Schule fertig zu machen. Nun legten die Mütter der Schulkinder zusammen und kauften einen teuren Topf Clarins-Feuchtigkeitscreme für mich; eine nette Geste, obwohl es teilweise rausgeschmissenes Geld war für jemanden, der keinen Geruchssinn mehr besaß.
    Eine andere dieser unerträglich peinlichen Erniedrigungen, die ich während dieser Zeit erdulden musste, war der Beginn meiner »Tage«, wie die Oberschwester es bezeichnete. Meine Mutter wurde gebeten, einige Monatsbinden für die Nacht mitzubringen, die man in meine Windel einlegte. Später nannte ich sie meine »Crash-Matten«, und sie wurden zu einem weiteren Zeichen für eine peinliche Körperfunktion, die ich nicht unter Kontrolle hatte.
    Nach der täglichen Routine des Waschens hob mich mein Physiotherapeut, ein fürsorglicher Neuseeländer, der wie Simon Cowell in Hosen mit Hosenträgern herumlief, wie einen Sack Kartoffeln aus dem Bett und bearbeitete meine Extremitäten, um die Muskeln zu aktivieren. Das Morgenprogramm war anstrengend, und so schlummerte ich nachmittags häufig ein, während ich den Uhrzeiger beobachtete und auf meine ersten Besucher wartete.

KAPITEL 7

Wir hatten unsere Differenzen, aber meine Mutter ist fantastisch
    M eine Mutter weint nie. Sie ist wie ich, oder vielleicht bin ich wie sie. In meiner ganzen Kindheit sah ich meine Mutter nicht ein einziges Mal weinen. Sie zeigte nie irgendwelche Anzeichen von Emotionen. Es war nicht so, dass sie ihre Kinder nicht liebte, aber sie gehörte eben zu jener Nachkriegsgeneration stoischer Mütter, die gute Miene zum bösen Spiel machten und sich mit den Umständen arrangierten. Wenn sie wütend war, zog sie sich zurück und heulte, weil sie ihre Schwäche nicht zeigen wollte. Das habe ich von meiner Mutter übernommen. Sobald ich Ärger oder Stress hatte, lief ich davon, verbarg mich und tauchte erst wieder auf, wenn ich mich stärker fühlte und die Dinge angehen konnte.
    Als ich meine Mutter zum ersten Mal weinen sah, unterstrich dies die Tatsache, in welch schlechtem Zustand ich mich befand. Natürlich wusste meine Mutter nicht, dass ich ihre Tränen sehen konnte und ihren Schmerz bemerkte, sonst hätte sie sich dieses Anzeichen von Schwäche niemals erlaubt.
    »Bitte, Mama, sag mir, was mit mir los ist«, flehte ich sie stumm an.
    Seit dem Schlaganfall hatte meine Mutter täglich an meinem Bett gewacht. Hilflos sah sie mit an, wie meine Atmung auf und nieder schlingerte. Wenn die Ärzte den Eindruck hatten, meine Atmung sei etwas gefestigter, stellten sie das Beatmungsgerät eine Stufe niedriger, doch nach ein paar Minuten stürzte die Atmung wieder ab, und sie mussten sich beeilen, das Gerät auf die alte Stufe hochzuregeln. Diesem ewigen Schauspiel zusehen zu müssen, belastete meine Mutter.
    Noch schlimmer war für sie das Warten, überhaupt in die

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