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So nah bei dir und doch so fern

So nah bei dir und doch so fern

Titel: So nah bei dir und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Allatt
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    Ich hatte von Fällen gehört, in denen bei Menschen, die der höheren Hirnfunktionen beraubt waren, die Versorgung einfach eingestellt wurde, um sie sterben zu lassen. In diesem Anfangsstadium glaubte ich, da keiner des ärztlichen Personals oder aus meiner Familie bemerkt hatte, dass mein Geist arbeitete, man könne möglicherweise beschließen, mir ebenfalls die Nahrung zu entziehen und damit mein Schicksal zu besiegeln. Dieser Gedanke versetzte mich in Panik. Was, wenn die Ärzte mit meiner Familie ein ähnliches Gespräch führen würden wie über den jungen Familienvater? Angenommen sie stünden vor der harten Wahl, mich als Dahinvegetierende leben zu lassen oder den Schlauch herauszuziehen, wofür würden sich meine Lieben entscheiden?
    Mark hatte immer gesagt, falls ihm einmal etwas Ernsthaftes zustoßen sollte, wolle er niemals am Leben gehalten werden, ohne sich »selbst den Arsch abwischen zu können«. Ich war bei diesen Was-wäre-wenn-Diskussionen gelassener geblieben und hatte gesagt, ich könne mich nicht entscheiden. Ein ums andere Mal spielte ich diese Gespräche durch und fühlte mich mit jedem hypothetischen Ergebnis schutzloser. Was, wenn mein nächster Angehöriger, der wusste, wie sehr ich das Leben und meine Unabhängigkeit liebte und welch große Bedeutung Gesundheit und Fitness für mich hatten, zu dem Schluss kommen sollte, das Beste für mich sei der Tod? Vor die Wahl gestellt, würde meine Familie zustimmen, die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden, ohne je bemerkt zu haben, dass mein Verstand arbeitete? Angsttränen rollten mir über die Wangen, während ich überlegte, wie ich meiner Familie mitteilen konnte, dass ich innerlich lebte und meine eigenen Leben-oder-Tod-Entscheidungen treffen konnte.
    In dieser Nacht träumte ich, der Mann im Bett neben mir würde getötet. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob ich wach war oder geschlafen habe, als es geschah, aber es ist eine der bleibendsten und aufwühlendsten Erinnerungen an meine Zeit auf der Intensivstation. Im Traum gaben die Ärzte dem Patienten statt einer Herzmassage einen Elektroschock. Wie ich war auch dieser Mann davon überzeugt, man wolle ihn töten, und er schrie: »Ich bin es nicht wert, mich leben zu lassen!«
    Bei anderer Gelegenheit träumte ich, eine Nachtschwester habe den Tropf für Grafit, mit dem die Herzfrequenz langsam reduziert wurde, zugedreht. Ich erlebte es ungeheuer plastisch, und es blieb traumatisierend, weil ich im Traum machtlos gewesen war, den drohenden Tod zu verhindern.
    Die Medikamente verführten meine Fantasie aber auch zu lustigen Dingen. So erinnere ich mich an einen anderen realistischen Traum, in dem ich glaubte, Patrick Duffy in der TV -Serie Der Mann aus Atlantis zu sein. Als Teenager hatte ich in den Achtzigerjahren wie viele gleichaltrige Mädchen ungeheuer für Patrick Duffy geschwärmt, der anschließend den Bobby Ewing in Dallas spielte. Im Bett liegend stellte ich mir vor, ich hätte Füße mit Schwimmhäuten wie der Mann aus Atlantis, und ich sei imstande, einfach wegzuschwimmen; oder ich würde von den Toten auferstehen wie Bobby Ewing in der berühmten Duschszene in Dallas .
    Unglücklicherweise besaßen meine Füße keine Schwimmhäute, sie waren in abscheulichen, unbequemen Beinschienen festgeschnallt. Obwohl die Ärzte übereingekommen waren, dass ich nie wieder laufen können würde, sofern ich überlebte, glaubten sie, sichergehen zu müssen, indem sie meine Beine in ein Metallgestell zwängten. Das hatte den Zweck, meine Füße daran zu hindern, sich wie Baumwurzeln zu verbiegen, falls ich das Bett jemals verlassen sollte. Es führte aber auch dazu, dass sie unerträglich heiß wurden und ich Krämpfe in den Beinen bekam.
    Ich fand eine erstaunliche Sache heraus: Ich konnte auf Befehl weinen. Manchmal weinte ich, um die Aufmerksamkeit der Schwestern auf meine Schmerzen zu lenken, doch es funktionierte nur selten.
    Ich hasste den Schlauch in meinem Mund. Ich sabberte ständig, nachts machte er es mir unmöglich, in den Schlaf zu fallen. Dennoch erklärten mich die Ärzte für »schlauchtolerant«.
    »Ist das ein gutes Zeichen?«, fragte Mark damals, nur um »Nein« zu hören, als sich herausstellte, dass ich den Würgreflex verloren hatte.
    Später erfuhr ich, Schlaflosigkeit könne eine der vielen Nebenwirkungen des Locked-in-Syndroms sein. Es half nicht, dass das Pflegepersonal der Nachtschicht häufig die leere Nische neben meinem Bett als Treffpunkt nutzte. Ich

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