So nicht, Europa!
in die Rolle des Gesamtentscheiders. Denn wenn
nur ein Staat die Zustimmung zum Lissabon-Vertrag verweigerte, so regelte es die europäische Geschäftsordnung klipp und klar,
wäre er gescheitert.
Der Premierminister in Dublin, Brian Cowen, packte angesichts des Sturmlaufs der Vertragsgegner auf seiner Insel die Nervosität.
Er erklärt ein Ja zum Lissabon-Vertrag zur Staatsraison. Bereits 2005 hatten Franzosen und Niederländer das damals noch »E U-Verfassung « genannte Werk in Volksentscheiden abgelehnt. Seither steckten Hunderte von Ministerialbeamten, Diplomaten und Juristen in
Europas Hauptstädten ihrer ganze Energie in eine Neuauflage, hatte nicht zuletzt Angela Merkel höchste staatsmännische Künste
aufgeboten, um am Ende auch die skeptische polnische Regierung zur Zustimmung zu bringen, bis schließlich sämtliche Staatschefs
im Dezember 2007 in Lissabon zusammenkamen, um jenes Mammutwerk zu unterschreiben, das Europa endlich, endlich effizient regierbar
machen soll.
Und die große Neuordnung Europas sollte nun an einer kleinen Insel mit 4 Millionen Einwohnern scheitern? Bloß daran womöglich, dass der Telekommunikationsunternehmer Declan Ganley glaubt, er müsse
sich auch noch als politischer Revolutionär beweisen? Für wen hält der Mann sich? »Ich bin ein überzeugter Europäer«, sagt
er, während er Tee eingießt. »Aber ich will Demokratie, keine Oligarchie. Sagen Sie mir: Wie bitte soll ein zukünftiger Europäischer
Präsident, der nicht vom Volk gewählt ist, der chinesischen Regierung gegenübertreten und ihr etwas von Demokratie erzählen?«
Eine Antwort wäre, dass ein Kontinent aus 27 Nationen mit einer komplizierten Einigungsgeschichte schlicht nicht so demokratisch verfasst sein kann wie ein Einzelstaat.
Europa ist nicht Amerika. Seine Bedienungsanleitung muss zwangsläufig etwas komplizierter ausfallen. Ganley springt von seinem
Stuhl auf und knallt die schwere Silberkanne auf den Tisch. »Wissen Sie was? Die Geschichte der EU wäre anders verlaufen,
wenn es früher Leute wie mich gegeben hätte, die aufgestanden wären und ihre Meinung gesagt hätten!« In Declan Ganleys Zorn,
in dem Applaus der Menschen, die ihm auf Dorfversammlungen zujubeln, drückte sich ein Unwohlsein gegenüber Europa aus, das
aus einem eigentlich gesunden Bauchgefühl stammt – und das nicht nur vieleIren verspüren. Die Menschen fragten sich: Warum soll ich einem 45 0-Seiten -Vertrag zustimmen, den ich nicht verstehe? Warum kommen immer mehr Gesetze aus Brüssel, von deren Entstehung ich nichts mitbekomme?
Warum soll eine undurchschaubare Kommission, die mit nicht demokratisch gewählten Vertretern besetzt ist, noch mächtiger werden?
Auf der kleinen Atlantikinsel tobte im Frühjahr 2008 eine verspätete Stellvertreterauseinandersetzung ums große europäische
Ganze. Zwar hätten die Lissabon-Befürworter auf manche der Systemfragen der Gegner gute Antworten finden können. Doch statt
sich auf eine konstruktive Diskussion über die Evolution der EU einzulassen, überzogen sich beide Seiten mit Verteufelungen.
Das irische Referendum, so stellte Ganley es dar, würde den Europäern die letzte Chance geben, den gefräßigen Zentralisten
in Brüssel Einhalt zu gebieten, ihnen eine rote Linie zu ziehen. »Danach«, warnte er, »werden wir nie wieder über die EU abstimmen.«
Und wenn die Iren tatsächlich Nein sagen sollten, was dann? »Dann werden die Staatschefs zurückkehren müssen an die Verhandlungstische,
um uns etwas Besseres anzubieten. Das Gespött Europas werden nicht die Iren sein, sondern die Brüsseler Bürokraten.«
In der Dubliner Staatskanzlei versuchte die Regierung verzweifelt, den charismatischen Volkstribun aus Galway als dubiosen
Schattenmann zu diskreditieren. Ganley, versicherte Europaminister Dick Roche, pflege eine »neoliberale, amerikanisch beeinflusste
Denke«. Mit hochgezogenen Augenbrauen und im Flüsterton fügte er hinzu, der Mann unterhalte außerdem »viele Geschäftsbeziehungen
zum U S-Militär «. Unter Journalisten in Dublin und Brüssel haben solche Anspielungen dazu geführt, Ganley Verbindungen zur CIA zu unterstellen.
Tätsächlich machte der mit einer Amerikanerin verheiratete Mann keinen Hehl daraus, dass er die U S-Nationalgarde mit einem System zu Kommunikation in Krisenfällen ausgerüstet hat. Er ist sogar stolz darauf, weil die Hightech-Handys nach
dem Hurrikan Caterina in New Orleans zum Einsatz kamen
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