So nicht, Europa!
anderslautenden Gerüchten, keineswegs schlecht über den Vertrag informiert. Sie wussten besser über
seine Inhalte Bescheid als die meisten Kontinentaleuropäer (was freilich noch lange nicht bedeutet, dass sie ihn durchschaut
hätten). Die meisten von ihnen waren nach wochenlangen Pro- und Contradebatten mit erheblich mehr Lissabon-Wissen überschüttet
worden, als es sich je ein Festlandeuropäer freiwillig angetan hätte. Aber das, was sie erfuhren – oder zu erfahren glaubten –, hat viele eben eher verängstigt denn überzeugt. Eine Umfrage des Gallup-Institutes 94 im Auftrag der E U-Kommission lieferte für alle, die sie wahrnehmen wollten, schon wenige Tage nach dem Referendum aufschlussreiche Einblicke in die Motivlage
der Nein-Sager. Sie zeigten, dass die Vorbehalte gegen den Lissabon-Vertrag keineswegs so leicht heilbar waren, wie Europas
Regierungschefs dies annahmen. Der Hauptgrund für das Nein der Iren war demnach ein simpler Beweggrund, der auf Englisch besser
klingt als auf Deutsch: »If you don’t know, vote no.« Man unterschreibt nichts, was man nicht verstanden hat, schon gar nicht,
wenn es über 400 Seiten dick ist. 22 Prozent der Befragten sagten, sie hätten »nicht genug über den Vertrag gewusst und wollte nicht über etwas abstimmen, was
ich nicht verstehe«. Das galt auch für gebildete, intelligente Menschen, die durchaus intensiv versucht hatten, dasKonvolut zu durchdringen. Selbst von denjenigen, die mit Ja gestimmt hatten, gaben nur 18 Prozent an, ein »gutes Verständnis« der Vertragsinhalte gehabt zu haben. 95
Von einer »unabsichtlichen Unlesbarkeit des Vertragstextes« sprach später der grüne E U-Dombaumeister Daniel Cohn-Bendit. Der belgische E U-Kommissar Karel De Gucht wurde noch deutlicher. In einer Anhörung im Europäischen Parlament sagte er: »Die Leute konnten den Lissabon-Vertrag
nicht lesen, sie haben nicht ein Wort verstanden. Es konnte keine echte Debatte über den Vertrag stattfinden. Das war eine
bewusste Entscheidung des Europäischen Rates.« 96 Dahinter steckte der Gedanke, dass der Vertrag umso weniger nach einer Verfassung aussehen würde, je komplexer er formuliert
wäre. Und was keine Verfassung mehr ist, müsste auch in »unsicheren« Ländern wie Frankreich oder den Niederlanden nicht mehr
zur Volksabstimmung gestellt werden. Obwohl der Inhalt des Lissabon-Vertrages weitgehend identisch ist mit der einstigen Europäischen
Verfassung, ist seine Form technischer und verwickelter. Damit sollte er zu einer Sache der Experten gemacht werden, nicht
für das Volk.
Giuliano Amato, ehemaliger italienischer Ministerpräsident und Co-Vorsitzender des Verfassungskonvents, der den Text ausarbeitete,
sagte bei einem Vortrag am 12. Juli 2007 in London: »Sie [die E U-Regierungschefs ] haben beschlossen, dass das Dokument unlesbar sein sollte. Wenn es unlesbar wäre, wäre es nichts Verfassungsartiges, darum
ging es. Falls jemand es auf den ersten Blick verstehen würde, hätte es Gründe geben können für ein Referendum.« 97 Die gezielte Verschwurbelung war offenkundig so überdosiert, dass sie auch an unerwünschter Stelle wirkte. »Kein gesunder
vernünftiger Mensch« würde sich diesen Text durchlesen, gab der irische E U-Kommissar Charlie McCreevy kurz vor dem Referendum zu Protokoll – und sorgte damit in seiner Heimat für Fassungslosigkeit. 98
Eine große Mehrheit der Iren (68 Prozent) erklärte zudem, die »Nein«-Kampagne sei überzeugender gewesen als die »Ja«-Kam pagne . Sogar die Mehrheit der Ja-Sager (57 Prozent) sah dies so. Die Unverständlichkeit des Lissabon-Vertrages stand den Iren also offenbar stellvertretend für das ganze
Konstrukt EU. Undurchsichtig, technokratisch und elitär – diese Kritik an Brüssel übten die Iren wiederum stellvertretend für viele Europäer.
Nur fünf Prozent gaben als Grund für ihre Neinstimme an, sie seien »gegen dieIdee eines vereinten Europa«. Das zweitwichtigste Motiv für die Ablehnung (12 Prozent) lautete, »die irische Identität schützen« zu wollen. Nach der Undurchschaubarkeit des Vertrages und der Angst um
die nationale Identität gab es vier gleichrangige drittwichtigste Gründe (je 6 Prozent) für die Nein-Sager: »Die irische Neutralität in Sicherheits- und Verteidigungsfragen aufrechtzuerhalten« – »Ich traue
unseren Politikern nicht« – »Wir werden das Recht auf einen Kommissar in jeder Kommission verlieren«
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