So nicht, Europa!
und »Unser Steuersystem
muss geschützt werden«. So gut wie keine Rolle spielte, entgegen entsprechender Kolportagen in Brüssel und Teilen der europäischen
Presse, die Furcht, dass aufgrund von E U-Recht möglicherweise künftig die Schwulenehe, Abtreibung oder Sterbehilfe in Irland erlaubt werden könnten. Diese Sorge gaben nur
2 Prozent als Motiv für ihr Nein an.
Über alle spezifischen Gründe hinaus ist der Befund interessant, dass die Zustimmung zum Lissabon-Vertrag abnahm, je
jünger
die Befragten waren. Die meisten Nein-Sager (65 Prozent) gab es in der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren. Die höchste Zustimmung hingegen (58 Prozent) bei den über 5 5-Jährigen . »Es war irgendwie trendy, Nein zu stimmen«, erklärte eine Schülerin in Dublin. Eine gewisse Lust an der Rebellion wird man
den Iren historisch durchaus zubilligen können. Das Gründungsargument der EU, die Überwindung nationalstaatlichen Denkens,
war und ist ihnen kein Argument; auf der Insel wird der Nationalstolz sorgsam gepflegt. Die furchtsame Skepsis vor der eigenen
Größe, die das deutsche Selbstbild auszeichnet, ist den Iren, wie vielen anderen Europäern auch, gänzlich fremd.
Ein paar Tage nach dem Referendum schrieb mir John Ring, ein Softwareunternehmer aus Dublin, eine Mail, in der er darlegte,
warum er selbst, der sich eigentlich als großer Freund der Europäischen Union beschreibt, dieses Mal mit Nein gestimmt hat.
Seine Begründungsliste enthält einiges Nachdenkenswertes und sei deshalb hier in Auszügen wiedergegeben:
Lissabon sollte die EU »demokratischer« machen. Dennoch hat nur Irland mit einem Prozent der E U-Bevölkerung seine Bürger nach deren Meinung gefragt – und dies auch nur, weil unsere Regierung dazu verpflichtet war.
Die meisten irischen Politiker und Parlamentsmitglieder
sowie viele ihrer E U-Kollegen wollten eine »Ja«-Stimme – jedoch hatten nach eigenem Zugeständnis nur wenige den Vertrag gelesen oder seine Auswirkungen
bedacht.
Extremisten, die ein »Nein« befürworten, haben viele Lügen erzählt, die kein vernünftiger Menschen glauben würde. Dennoch
waren sie die einzigen, die diese Fragen angesprochen haben. Die Ja-Leute sagten »Vertraut uns«. Ich vertraue ihnen nicht
und ich sehe mich jetzt durch die Kommentare bekräftigt, die sagen »Lissabon ist nicht tot«.
Lissabon befürwortet eine gemeinsame E U-Außenpolitik . Wenn wir den März 2003 vor der Irakkrise bedenken, hätte es hier für Frankreich, Deutschland und Großbritannien wirklich
eine einheitliche E U-Irak -Politik geben können? Für die meisten ernsten Probleme unserer Zeit scheinen die derzeitigen EU -Strukturen ausreichend.
Obwohl wir mit E U-Ländern zusammenarbeiten, diktiert der globale Handel, dass wir auch mit ihnen konkurrieren. Ich benötige deshalb einen 100 Prozent garantierten, eindeutig formulierten Vorbehalt, dass unser Körperschaftssteuersatz weder jetzt noch in Zukunft jemals
geändert wird, es sei denn, dies würde von der irischen Regierung gefordert.
Einige Aspekte des Abkommens werden »zu einem späteren Zeitpunkt« erläutert. Dafür kann ich nicht stimmen.
Die positiven und sehr wichtigen Fragen des Lissabon-Vertrages, wie Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung usw., sollten
sehr schnell in die Tat umgesetzt werden. Warum werden die offensichtlich guten Dinge mit den umstrittenen vermengt?
Das Veto eines jeden Landes [im Ministerrat] wird durch eine »qualifizierte Mehrheitsabstimmung« bei wichtigen Fragen ersetzt,
was voraussichtlich für viele E U-Nationen ernsthafte unvorhergesehene Auswirkungen haben wird. Gerade erst haben sie den Wert eines Vetos erlebt.
Was jetzt?, fragt John Ring zum Schluss. Er wolle nicht als E U-Gegner gelten, bloß weil er gegen den Lissabon-Vertrag war, sagt er. Aber:
Jenen, die von unserer »Nein«-Stimme frustriert sind, möchte ich respektvoll nahelegen, dass deren Bevölkerung, wenn sie gefragt
würde, möglicherweise dasselbe sagen würde.
Doch die Lissabon-Beförderer nahmen sich keines von beidem zu Herzen, weder den Aufstand der Ganleyianer noch das »Nein« im
Lissabon-Referendum. »Der Vertrag lebt, und wir sollten jetzt versuchen eine Lösung zu finden«, kommentierte José Barroso
den Ausgang der Volksbefragung. 99 E U-Parlamentspräsident Pöttering tat folgendes Verständnis der Vertragsregeln kund: »Na türlich müssen wir Irlands Verfassungssystem respektieren, aber wir müssen auch
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