So nicht, Europa!
rechts herum, für Abgesandte aus »IE – GR –
LU – SI – LT – EE – CZ« nach links. Die Büros der neuen Mitgliedsländer liegen etwas abgelegen am Ende des Gebäudes, was es,
so ist zu hören, bisweilen schwierig mache, sie aufzuspüren, wenn schnell einmal bilaterale Zusammenkünfte organisiertwerden müssen. Deutschland liegt im linken Flügel, auf einem Gang mit Großbritannien, Österreich, Italien und Schweden.
Neben einer ozeanblauen Leinwand mit drei groben schwarz-rot-goldenen Pinselstrichen steht eine Tür offen. Sie führt ins deutsche
Delegationsbüro. Wie auf einem Polizeirevier tritt der Besucher als Erstes vor einem langen grauen Tresen, hinter dem sich
eine Phalanx von Flachbildschirmen, Telefonen, Druckern und Faxgeräten befindet. Von der Decke hängt ein Monitor, der Zeit
und Ort der anstehenden Arbeitsrunden bekannt gibt. An einer Pinnwand darunter listen zwei DINA 4-Seiten Telefonnummer, E-Mail -Adressen und Raumbuchstaben der übrigen 26 Delegationen auf. Nebenan liegt ein Besprechungsraum. In ihm kommen vor den Ratssitzungen die jeweiligen Fachminister mit
den Experten aus der deutschen E U-Botschaft zusammen, um die Verhandlungstaktik zu besprechen. Unbefangene Besucher könnten sich in ein Hinterzimmer des DD R-Staatsrats versetzt fühlen. Erdbraun gepolsterte Bürostühle umstehen einen weißen Besprechungstisch simpelster Bauart, die Fenster sind
verhangen mit weißen Gazegardinen. Mithilfe einiger Drucke von August-Macke-Gemälden hat ein wohlmeinender Geist versucht,
den Albdruck des Interieurs zu mildern. Ein dritter, etwas repräsentativerer Raum des Delegationsbüros bietet Gelegenheit,
Minister aus anderen Staaten zum Gespräch einzuladen. Hier, in etwas schlankeren Echtledersesseln, bespricht sich auch die
Kanzlerin mit ihren Begleitern, wenn sie zu Europäischen Gipfeltreffen anreist.
Was sich an jedem gewöhnlichen Brüsseler Arbeitstag in den routinemäßigen Diplomaten-Ratsarbeitsgruppen auf den unteren Etagen
des Gebäudes abspielt, beteuert einer, der schon viele legislative Sitzungen mitgemacht hat, wäre für Lauscher wenig interessant.
»Ein öffentliches Publikum, das dort zuschauen würde, würde des Öfteren vermutlich vor Langweile umfallen.« Es gibt sage und
schreibe rund 180 Ratsarbeitsgruppen mit jeweils eigenen Zuständigkeiten. Pro Tag kann es gut und gerne 15 Abstimmungen über alle möglichen Richtlinien geben. Ein oder zwei Beamte schickt jede nationale Brüsseler E U-Vertretung zu diesen Besprechungen, und auch die Kommission rückt mit Fachleuten an. Bis zu sechzig Leute treffen dann aufeinander.
Und alle haben sie ihre Standpunkte zum jeweiligen Gesetzesvorschlag. Die Diplomaten und Beamten schrauben an Paragrafen und
Unterparagrafen herum, aneinzelnen Wörtern und Fußnoten. Manche Sitzungen werden in alle E U-Sprachen gedolmetscht, manche nur ins Englische, Deutsche und Französische, manche gar nicht. Wer da nicht mithalten kann, ist schnell
abgehängt. »Nicht selten«, sagt ein Mitglied einer Arbeitsgruppe, »dauert die Sitzung den ganzen Tag, von morgens halb zehn
bis abends um sechs.« Denn kleine Schraubendrehungen können später große Wirkungen entfalten. Bei einer Chemikalien-Richtlinie
bedeutet eine Stelle hinter dem Komma mehr oder weniger für die Industrie schnell Millionen von Euro. »In diesen Verhandlungen
merkt man, dass wir ein alter Kontinent sind«, sagt ein Insider. Noch immer prallten dort Kulturen aufeinander.
Was in diesen scheinbar langweiligen Sitzungen beschlossen wird, kann über kurz oder lang jeden Europäer betreffen; in seinem
Supermarkt, seiner Bank, seinem Flugzeugsitz oder in seinen Grundrechten. Die Harmonisierung von immer mehr europäischen Vorschriften
birgt eine grundlegende Gefahr, wenn die EU das Prinzip der kommunizierenden Röhren, das in der Wirtschaftspolitik erfolgreich
ist, auf sämtliche andere Politikbereiche überträgt. Die Vereinheitlichung und Stärkung des Binnenmarktes nach diesem Prinzip
mag am Ende nur Gewinner kennen. Steigen in Portugal und Griechenland Bruttoinlandsprodukt und Kaufkraft, dann profitieren
davon auch die reicheren Länder. Ihre Exporte nehmen zu.
Bei der Europäisierung des Umweltrechts, des Verbraucherschutzes oder der Rechtspolitik hingegen gibt es klare Verlierer.
Fremde Regierungen können per Brüsseler Beschluss das Normenniveau verwässern, das nationale Parlamente einmal für ihre Länder
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