So nicht, Europa!
der landläufigen Annahme kamen die meisten
nicht aus der Kommission. Die größten Probleme gab es mit dem Europäischen Parlament. Wenn es eine Regulierung gibt, die man
ändern möchte, gibt es dort mit Sicherheit immereine Person, die hundertprozentig davon überzeugt ist, dass ausgerechnet das eine Regulierung ist, die wir unbedingt brauchen.« 4 Der schwedische E U-Abgeordnete Christofer Fjellner, der sich schon in seiner Heimat dem Kampf gegen Bürokratie verschrieben hatte, zog nach seiner Wahl
in die Brüsseler Völkervertretung ein ernüchterndes Resümee: »Ich konnte beobachten, dass viele meiner Kollegen die EU lieber
nutzen wollten, um überzuregulieren und mehr Bürokratie zu schaffen, statt sie als Projekt zu begreifen, mit dem man deregulieren
und simplifizieren könnte.« 5
Edmund Stoiber teilt diese Kritik. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre es schon, glaubt er, wenn nicht nur er,
sondern die europäische Öffentlichkeit genauer darauf schauen würde, was eigentlich von wem in Brüssel beschlossen werde.
»Aber da sind wir bei der Rolle der Medien, nicht wahr?«, sagt der Deregulierer mit forschendem Blick. Sehr richtig. Auf die
wird zurückzukommen sein.
2. Großes zu klein
Wie Europa sich vor ihren Verehrern aus dem Osten ziert
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Hermann Hesse
Obwohl ich dein mich freue,
Freu’ ich mich nicht des Bundes dieser Nacht.
Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich.
William Shakespeare, Romeo und Julia
Am 8. August 2008 marschierten russische Truppen nach Georgien ein. Michail Saakaschwili, der Präsident der ehemaligen Sowjetrepublik,
hatte, wie sich später nachvollziehen ließ, den Angriff durch eine eigene Offensive auf die abtrünnige Provinz Südossetien
provoziert. Unmittelbar nach Ausbruch der Kämpfe verbreitete er in Dauer-Liveschaltungen auf CNN und BBC vehement das Gegenteil.
Mit der Aggression gegen das kleine Nachbarland zeige Moskau sein noch immer imperialistisches Gesicht. »Die Sowjetunion kehrt
zurück«, beschwor Saakaschwili die Hauptstädte des Westens. Tatsächlich schien es nicht nur Saakaschwili, Russland schwinge
sich zum Beschützer für ethnische Russen im »nahen Ausland« auf. Im Angesicht rollender Panzer und Artilleriegeschütze aus
Moskau glaubten viele Beobachter im Westen, Moskau wolle den Verfallsprozess der 1990er-Jahre rückgängig machen und sich abgefallene
Sowjetgebiete wieder einverleiben.
Der Stress trieb Saakaschwili schließlich den Schlips zwischen die Zähne; die Fernsehaufnahmen davon, wie er auf seiner glänzend
roten Krawatte herumkaute, sollten zum Sinnbild seiner Überspanntheit werden. Während Saakaschwili an seinem Kragenbinder
nagte, klammerte er sich zugleich, wenn auch weniger körperlich, an einen zweiten Stoff. Zu seiner Linken hatte er demonstrativ,
gleich neben dem georgischen Staatswappen, die Sternenflagge der Europäischen Union ins T V-Bild gesetzt. In der Stunde nationaler Bedrohung nahm Saakaschwili das blaue Banner als Symbol, aller Welt deutlich machen, wohin
es Georgien ziehe, wohin es gehöre: nach Europa.
Doch ob in Kriegs- oder in Friedenszeiten, – Europa weiß nicht so recht, wie sie mit ihren Verehrern im Osten umgehen soll.
Die Attraktivität, welche die Europäische Union bis über den Kaukasus hinweg ausstrahlt, ist ihr nicht ganz geheuer. Ihren
neuen Liebhabern im Osten gegenüber verhält sie sich wie eine Diva. Das Ansehen und das Werben, das ihr zuteil wird, genießt
sie durchaus. Aber versprechen möchte sie niemandem etwas.
Die Nachbarschaftspolitik der EU besteht aus einem breiten Fächer aller möglichen »Programme«. Sie dienen der Wirtschafts-
und Demokratieförderung, der Handelsbeschleunigung und der Reiseerleichterung. Allein in ihrer finalen Zwecksetzung bleiben
sie unklar. Niemand weiß, ob sie letztlich dazu dienen sollen, die Anrainer in die EU aufzunehmen – oder dazu, sie draußen
zu halten. Angst vor der eigenen Courage ist ein Grund für diese Ambivalenz. Die EU, so beharren die Regierungen in den großen
Hauptstädten, müsse die Erweiterungsrunden 2005 und 2007 erst einmal verdauen, bevor sie weitere Mitglieder aufnehme.
Andererseits scheinen auch die Anwärter nicht genau zu wissen, was sie eigentlich erwarten. Der Hingewandtheit nach Westen
muss, eine kühle Gewissensprüfung vorausgesetzt, nicht unbedingt dem Wunsch entspringen, den Ehebund mit dem
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