So nicht, Europa!
– die Kommission zu verkleinern, soll auch weiterhin jedes Mitgliedsland
einen Kommissar stellen, verabredeten sie Ende 2008. Sollten dereinst die Balkanstaaten der EU beitreten, werden sich also über 30 Kommissare im Berlaymont drängen – allesamt mit dem Ehrgeiz, eigene Gesetze zu erlassen. Die Vereinbarung »ein Kommissar pro
Land« ist, nebenbei bemerkt, ebenso sinnreich, als würde im Grundgesetz festgeschrieben, dass in Berlin 16 Bundesminister bestellt werden müssen, weil es 16 Bundesländer gibt.
Von überflüssigen Kommissaren einmal abgesehen – wie überhaupt kann es immer wieder passieren, dass in Brüssel hinderliche
Regularien in die Welt gesetzt werden, denen ganz augenscheinlich der Sinn für die Praxis abgeht? Die Gesetzgebungsprozesse
ziehen sich manchmal über Jahre hin, die Kommission bemüht sich, sämtliche »Stakeholder«, also Interessengruppen, einzubinden,
um ihre Standpunkte in die Verfahren einzuspeisen. Tausende von Lobbyisten tummeln sich in der Stadt, 4322 waren im Jahr 2009
registriert, aber es dürften noch wesentlich mehr sein, weil sich nicht alle offiziell auflisten lassen. Wie kann es trotz
alledem passieren, dass regelmäßig bürokratische Ärgernisse in E U-Gesetze eingebaut werden?
Stoiber hat dafür eine interessante Erklärung parat. In Brüssel, antwortet er, nähmen viele Verbandsvertreter ihre Aufgabe
»eher auf die leichte Schulter«. Es gebe zu wenig Auseinandersetzung bei der Schaffung der Gesetze. Ob im Lebensmittelrecht,
beim Verbraucherschutz oder bei Arzneimittelregeln, überall setzten sich allzu leicht die »Maximalschützer« durch. »Als die
Handelsbilanz- und Rechnungsprüfung der EU eingeführt wurde, hat es überhaupt keine Einwände der Mittelstandsverbände gegeben«,
wundert sich Stoiber. Er nimmt die Brille ab: »Wenn das ein deutsches Gesetz gewesen wäre, hätte das daheim eine hitzige Diskussion
ausgelöst. Hier in Brüssel kriegt das keiner mit!« Eine Lobbyistin, die nicht namentlich genannt werden möchte, bestätigt
diese Beobachtung. Sie braucht nur zwei Sätze, um die besondere Dynamik der Käseglocke zu erklären, die oft in suboptimalen
Ergebnissen mündet. »Wenn Sie in Brüssel arbeiten, verfallen Sie schnell in eine Art Botschafterrolle gegenüber Ihren Kollegen
in Berlin. Sie fühlensich irgendwie verpflichtet, das Gute und Wichtige an Europa zu vermitteln, und nicht so sehr, die nationale Sicht durchzudrücken.«
So ist das wohl in einer Stadt, in der alle Fremde sind und Freundschaften suchen. Der demokratische Sportsgeist weicht dem
gemeinschaftsstiftenden Ethos, an einem Strang zu ziehen. Das Soziologische setzt sich fort ins Juristische. Die Menschen
»verbrüsseln«, und in der Folge auch die Gesetze. Man könnte es auch physikalisch ausdrücken und sagen, dass das politische
Kraftfeld in der E U-Hauptstadt nicht, wie in den Nationalstaaten, von vertikalen Dynamiken bestimmt wird, also von der Sorge der Politiker um die Reaktion
der Bevölkerung, sondern von horizontalen Vektoren: Welcher Interessenvertreter oder welches Land isoliert sich anderen gegenüber?
Wer benimmt sich in welcher Arbeitsgruppe wie? Hört jemand auf, am gemeinsamen Strang zu ziehen? Die Sorge vor der Wählerschaft
ist in Brüssel ersetzt durch den Drang zu harmonischen Lösungen. Dies sorgt für eine Gesetzgebung, die in diesen Formen und
Geschwindigkeiten zu Hause nicht möglich gewesen wäre.
Hinzu kommt, dass es oft die Industrie selbst ist, die für strengere Normierungen lobbyiert. Große Unternehmen schreiben regelmäßig
Europaabgeordnete an, mit der Bitte, Gesetzgebung für beispielsweise die neuesten Sicherheitsstandards beim Autobau oder bei
Küchenmaschinen anzustoßen. Dahinter steckt die Absicht, eigene Patente per E U-Gesetz zum Handelsstandard erklären zu lassen. Auf diese Weise halten die europäischen Hersteller – jedenfalls für einige Jahre,
bis die Technik kopiert ist – Billiganbieter aus China oder Indien aus dem Markt. Es ist Protektionismus durch die Hintertür
– aber viele E U-Parlamentarier springen darauf an, weil Gesetzesarbeit ihnen Aufgabe und Anerkennung verschafft.
Kurz bevor er Brüssel verließ, hinterließ der ehemalige deutsche Industriekommissar Günter Verheugen, der eng mit Edmund Stoiber
zusammenarbeitete, eine kritische Ansage an das E U-Par lament . »Mir sind [beim Bürokratieabbau] eine Menge Schwierigkeiten begegnet, aber entgegen
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