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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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indischen Volksversammlung das zweitgrößte Plenum der Welt. Am 19.   Februar 2009 öffnete es einem seiner schärfsten Kritiker die Tore. Das geschah nicht, weil es die Abgeordneten so gewollt
     hätten, sondern weil es das Protokoll erzwang. Tschechien hatte soeben die halbjährliche E U-Ratspräsidentschaft übernommen. Und so betrat der tschechische Präsident Václav Klaus den Brüsseler Plenarsaal, um eine Grundsatzrede zu halten.
     Ein bisschen war es, als trete der Leibhaftige vor Europas Volksvertretern auf – Klaus, der gefürchtete Verweigerer. Daheim
     in Prag weigerte er sich nicht nur, die Europaflagge über dem Hradschin aufzuziehen. Er weigerte sich auch, das europäische
     Mantra des Klimawandels als wissenschaftlich bewiesen anzuerkennen. Überhaupt weigerte er sich, dem Brüsseler Apparat besonderen
     Respekt entgegenzubringen. Nicht ganz ohne maliziöse Reminiszenz an die Zeit unter sowjetischer Knute bezeichnete er sich
     selbst als »E U-Dissidenten «.
    Die Stimmung knisterte, als der unerwünschte Ehrengast raschen Schrittes den Saal betrat. Würde Klaus der Schreckliche die
     Gelegenheit nutzen für einen medienwirksamen Angriff auf den Brüsseler Apparat? Einige Abgeordnete erwarteten genau das –
     und waren deshalb gar nicht erst gekommen. Klaus enttäuschte nicht. Nach einigen artigen Dankesworten kam er zur Sache. »Sind
     Sie sicher«, fragte der Tscheche die versammelten Parlamentarier,»dass Sie immer über Dinge entscheiden, die gerade hier in diesem Saal und nicht näher am Bürger entschieden werden müssten?«
     Buhrufe flogen ihm daraufhin entgegen. Vereinzelt regte sich auch Beifall. Dann jedoch überschritt Klaus die Schmerzgrenze.
     »In unserem Teil Europas«, sagte er, »haben wir die bittere Erfahrung gemacht, dass dort, wo es keine Opposition gibt, die
     Freiheit verkommt.« Das war zu viel. Mehrere Abgeordnete, unter ihnen auch Deutsche, verließen den Saal. Die EU derart unverhohlen
     mit der UdSSR zu vergleichen, löste eine zu existenzielle Kränkung aus. Und Kränkungen sind noch immer schwierig zu verdauen
     für das Europaparlament. Auch in seinem dritten Lebensjahrzehnt leidet die unverstandene Versammlung der Kontinentverbesserer
     unter dünnem Selbstbewusstsein.
     
    In der Vorstellung der meisten Bürger changiert das Europäische Parlament irgendwo zwischen geheimnisvoller Hypermacht und
     zweitklassig bestückter Folkloretruppe. Seit 1979, als die Brüsseler Völkervertreter zum ersten Mal direkt gewählt werden
     konnten, sinkt die Beteiligung an den Europawahlen kontinuierlich. Nur 43   Prozent der Europäer scherten sich bei der Wahl 2009 um die Bestellung ihrer Brüsseler Vertreter – der Tiefpunkt einer stetigen
     Entwicklung. Regelmäßig liegt die Beteiligung an Europawahlen zwischen 20 und 40   Prozentpunkten hinter denen der nationalen zurück, und der Abstand vergrößert sich zunehmend. In Polen, Litauen und der Slowakei
     gingen zuletzt nur zwischen 20 und 25   Prozent der Bevölkerung zu den Europawahlen. Das Muster ist zu umfassend, um mit lokalen Gründen entschuldigt werden zu können.
     Offenbar hat sich unter den Europäern der Eindruck ausgebreitet, diese Volksvertretung sei weniger ein unabhängiges Meinungsbildungsorgan,
     als vielmehr eine bessere NGO mit dem Vereinsziel europäische Integration. »Der wesentliche Punkt ist, dass die kontinuierliche
     Ausdehnung der Befugnisse des Europäischen Parlaments seit den 80er-Jahren nicht ausgereicht hat, um die Legitimität eines
     immer ambitionierteren Integrationsprojekts zu verbessern«, bilanziert ein wenig verbittert der bekannte Europawissenschaftler
     Giandomenico Majone.
    Das »EP«, wie seine Abkürzung im Brüsseler Jargon lautet, weiß um seinen ätherischen, abgehobenen Status in den Köpfen der
     Europäer. Seit es das Parlament gibt, kämpft es gegen das Image eines
Second Order Parliaments
an, einer Volksvertretungzweiter Klasse. Die Fragen von Klaus Vaclav traf die Abgeordneten deshalb an ihrer empfindlichsten Stelle. Der Bezug auf die
     Sowjetunion war polemisch, keine Frage. Aber das ändert nichts einem Erkenntniskern, den eben dieser Vergleich freilegt. Er
     lautet, dass Menschen sich, egal unter welchem System, immer noch am liebsten regional und national, nicht supranational regieren
     lassen. Schon gar nicht dann, wenn diese Supranationalen sich im Großen und Ganzen einem gemeinsamen Zweck verschrieben zu
     haben scheinen. Klaus hat recht: Es gibt im E

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