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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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U-Parlament viel zu viel Streit um die Ausgestaltung von Harmonisierungsgesetzen und viel zu wenig Streit darüber, ob dieses oder jenes
     Harmonisierungsgesetz tatsächlich notwendig ist. Warum etwa muss die EU die Länge des Mutterschutzurlaubes in allen Mitgliedsländer
     vereinheitlichen? Warum muss sie sich mit der Untertitelung von Filmen beschäftigen? Warum muss das Parlament eine Kampagne
     zur Senkung der Mehrwertsteuer auf Kondome anschieben?
    Eine Erklärung für die schwindende Beteiligung an den Europawahlen könnte lauten, dass es die meisten Bürger angesichts der
     in Wahrheit eingeschränkten Wahlmöglichkeit über Europapolitik vorziehen, ihren diffusen Missmut gegenüber
dieser
EU mit den Füßen zum Ausdruck zu bringen. Sie bleiben am Europawahltag einfach zu Hause. In einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung
     gaben vor der Wahl 2009 die meisten Menschen (68   Prozent) als Grund für ihr Desinteresse an, sie seien der Ansicht, »dass ihre Stimme nichts ändern wird«. Natürlich muss die
     Wahlabstinenz einer Mehrheit der Europäer nicht bedeuten, dass sie die EU delegitimieren möchten. Aber sie bedeutet auf keinen
     Fall, dass die Bürger die E U-Ebene stärken wollen.
     
    Wie würden die Wahlbeteiligung und die Zusammensetzung des Parlaments wohl ausfallen, wenn bei den Europawahlen über wirklich
     grundlegende europäische Themen abgestimmt werden könnte – darüber etwa, wie viel Macht und Zuständigkeit die E U-Ebene beanspruchen sollte? Als die Franzosen 2005 in einem Referendum ihre Meinung über die Europäische Verfassung, die glücklose
     Vorgängerin des Lissabon-Vertrages, abgeben sollten, trieb diese Grundsatzfrage fast 70   Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen. Die Europawahlen ein Jahr zuvor hatten nur 43   Prozent der Franzosen angelockt. Ein ganz ähnliches Bild war in den Niederlanden zu verzeichnen: Zu den E P-Wahlen gingen 2004 nur39   Prozent der Holländer, zum Verfassungsreferendum 2005 hingegen 62   Prozent. Im Ergebnis stimmten 55   Prozent der Franzosen und 62   Prozent der Holländer gegen die Verfassung.
    Gemessen am Ausgang dieser Volksabstimmungen müsste das Europaparlament also eigentlich zur Mehrheit mit Integrationsskeptikern
     besetzt sein. Das ist aber nicht der Fall. Denn eine Ablehnung der gegenwärtigen E U-Politik müsste der Bürger damit erkaufen, eine der rundheraus EU-feindlichen Parteien aus dem links- oder rechtsradikalen Lager ins
     Europaparlament zu wählen. Das tun die allermeisten Wähler aus nachvollziehbaren Gründen nicht.
    Ist das dumpfe Gefühl in den Wahlkreisen, dass es sich beim Europaparlament bloß um eine Simulation von Politik handelt, womöglich
     richtig – und das niedrige Bürgerinteresse mithin berechtigt? Oder scheitern an dem, was dieses Gebilde in Wirklichkeit ist,
     die gewohnten Kategorien von Politik – mit der Folge, dass die Wählerhirne das Organ zu unrecht klein denken? Die erregte
     Reaktion einiger Parlamentarier auf die Provokation von Václav Klaus ist ein Indiz für die erste Variante. Wenn allein die
     Frage, wie es die Europaparlamentarier mit dem Subsidiaritätsgedanken halten, Abscheu und Empörung auslöst, scheint die Vorstellung
     von einer eigensinnigen Avantgardisten-Versammlung nicht völlig verkehrt zu sein. Dieser Befund allein wird der wahren Bedeutung
     des Parlaments zwar nicht gerecht. Doch zu einer der wichtigeren und aufschlussreicheren Beobachtungen im E U-Parlament gehört es, dass selbst seine Veteranen sich bisweilen härtere, offenere Auseinandersetzungen wünschen im Bauch von Europa.
     
    »Ja!«, schreit Daniel Cohn-Bendit. »Politik! Echte Politik!« Er springt aus seinem Sessel auf. »Genau! Das braucht Europa!«
     Wie aufgeputscht geht der Fraktionsvorsitzende der Grünen in seinem Abgeordnetenbüro auf und ab. Der Blick heraus aus der
     hochhausartigen Fassade des Parlaments geht über die Schindeldächer Brüssels. Auf dem Fensterbrett vor dem Altrevolutionär
     liegen zwei Pflastersteine. »Sous le pavé, la plage«, unter dem Pflaster der Strand, hieß die Parole des Sommers ’68.   Es sind Relikte aus einer Zeit, als Politik noch greifbar war. Als Meinungsstreit noch Richtungsstreit war und Ideen Straßen
     aufheizten. Das andere Ende der Intensitätsskala liegt genau hier. 8.   Stock, Gebäudeteil Altiero Spinelli. Die einzelnen Flügel des E U-Parlaments tragendie Namen von Vordenkern der europäischen Einigung. Louise Weiss ist ein runder Abgeordnetenturm,

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