So nicht, Europa!
Willy Brandt ein rechteckiger
Verwaltungskasten, und eine Fußgängerbrücke hört auf den Namen Konrad Adenauer. Dieses Gebäude, signalisieren seine Namen,
ist kein gewöhnliches politisches Gehäuse, sondern ein Tempel der europäischen Idee.
Daniel Cohn-Bendit greift sein Jackett, bedenkt die drei Mitarbeiterinnen in seinem Vorzimmer mit ausgiebigen Bussis und tritt
hinaus in die Parlamentsflure. Es ist ein Labyrinth, das jeden Neuling das Kafkaeske des Apparates spüren lässt. Die Büros
der 736 Abgeordneten aus 27 Ländern tragen Postleitzahlen wie ASP 7G 351 und sind so eng wie Gefängniszellen. Auf einer Fläche von 372.000 Quadratmetern drängen sich 2600 Büroräume und 78 Tagungssäle, in denen jedes Jahr 405.000 Tassen Kaffee serviert werden. Im großen Foyer im dritten Stock sortieren Bedienstete Dokumente in riesige Postfachwände.
Noch der kleinste Änderungsantrag muss ins Gälische oder Maltesische übersetzt werden, bevor ein Rädchen sich weiterdreht.
Fast 3000 Dolmetscher bewältigen den Sprach- und Schriftverkehr der 23 offiziellen Arbeitssprachen, sie kommen leicht auf über eine
Millionen übersetzte Seiten pro Jahr.
Cohn-Bendit findet blind seinen Weg durch das Gewirr der Gänge. Im Gehen tippt er Kurzmitteilungen an die Fraktionsmitglieder
in sein Handy. »Ja, sicher!«, ruft er wieder und wedelt mit der sommerbesprossten Hand, »wir müssen die Auseinandersetzung
hier politisieren!« Dann redet er von Klimaschutz, von neuen Bankenregeln, von einer anderen Afghanistanpolitik, von einem
sozialeren Europa. Doch für mindestens die Hälfte all dieser Angelegenheiten haben er und seine Kollegen nach wie vor überhaupt
kein Mandat.
Im Rahmen der begrenzten europäischen Kompetenzen hat der Lissabon-Vertrag das Europäische Parlament gleichwohl enorm aufgewertet.
Während es früher lediglich über solche Vorhaben der E U-Kommission mitentscheiden konnte, die im weitesten Sinne den Binnenmarkt betrafen, räumte ihm der Reformvertrag Mitwirkungsrechte an
grundsätzlich allen Politikbereichen ein. Zwar änderte er nichts daran, dass es, anders als alle anderen Volksvertretungen,
kein Initiativrecht für Gesetzgebung beanspruchenkonnte. Doch dann kam der Jahreswechsel 2009 / 2010, und die Parlamentarier hatten die erste E U-Kommission nach Lissabon zu bestätigen. Mit dem Hebel in der Hand, einzelne Kandidaten durchfallen zu lassen, trotzten sie dem Kommissionspräsidenten
die Vereinbarung ab, dass er Vorschläge aus dem Parlament künftig wie bindende Aufträge behandeln muss. Das Europäische Parlament
hat sich damit von einem Abnickungsorgan in einen vollwertigen Beteiligten der Brüsseler Gesetzgebung verwandelt.
Europa erlebt eine, wenn man so will, zweite Generation des Parlamentarismus. Die Abgeordneten des EP haben künftig in vielen
Gesetzgebungsbereichen als jene demokratische Kontrollschleuse zu wirken, welche die Bürger bisher von den nationalen Volksvertretungen
gewohnt waren. Die Anzahl der Politikfelder, über die sie gleichberechtigt mit dem kraftstrotzenden Rat, also der Versammlung
der europäischen Minister, entscheiden können, ist von 45 auf 85 angewachsen. Das reicht vom Agrarmarkt über den Außenhandel
bis zur Justiz- und Innenpolitik. Ob Amerika europäische Bank- oder Fluggastdaten übermittelt werden, ob die Frage verhandelt
wird, zu welchen Zwecken der milliardenschwere Topf zur Agrarförderung ausgeschüttet wird, oder ob neue handelspolitische
Abkommen mit dem Ausland geschlossen werden sollen – ohne Zustimmung des EP geht nichts mehr. »Manche meiner Kollegen in Washington
haben schon Angst, dass sie gar nicht mehr nach Paris oder Berlin reisen können, sondern immer nur hierher kommen müssen«,
sagt eine U S-Diplomatin in Brüssel.
Die Veränderung, die dieser Wandel für die politische Kultur in Europa selbst mit sich bringen wird, werden wahrscheinlich
erst auf lange Sicht zutage treten. Noch nie in der Geschichte sind so weit gehende politische Befugnisse auf eine supranationale
Ebene gehoben worden wie durch den E U-Reformvertrag . Deswegen kann auch noch niemand wissen, wie Europas Bürger die zunehmende Entkopplung der Politik von ihren gewohnten Bezugspunkten
verdauen. Die systemische Herausforderung, die mit dieser Verschiebung einhergeht, lässt sich indes heute schon formulieren.
Mit dem Lissabon-Vertrag agiert die EU immer mehr wie ein Staat, und dieser
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