So nicht, Europa!
Machtzuwachs eröffnet wachsenden Spielraum für
Missbräuche. Die Frage lautet also, ob das Brüsseler Parlament seinerseits als demokratischer
Watchdog
wird mithalten können. Erstarkt es qualitativ und kulturell zur echten Oppositionsinstanz?Kann es die wachsende Macht der Ministerräte ausbalancieren? Oder bleibt es eine seltsam unernst, oft verspielt wirkende Ansammlung
von europaverliebten Integrationisten? Viel hängt ab von dieser Reifeprüfung. Es geht nicht nur um den Schutz der Bürgerrechte.
Letzten Endes geht es um die Akzeptanz des ganzen neuen Lissabon-Europa.
Ein hoffnungsvoller Anfang schien gleich zu Beginn gemacht. Schon im Februar 2010 sah es so aus, als erlebe die neue Europademokratie
ihre Geburtsstunde. Mit großer fraktionsübergreifender Mehrheit schmetterte das E U-Parlament das umstrittene Swift-Abkommen ab. Mit dieser Übereinkunft wollten sich die Vereinigten Staaten weiterhin Zugriff auf europäische
Überweisungsdaten sichern. Eben den hatte sich die U S-Regierung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf recht dreiste Weise verschafft. SWIFT, die Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication,
ist eine Genossenschaft mit Sitz in Belgien, die für mehr als 8300 Banken und Finanzdienstleister in 208 Ländern internationale Transaktionen abwickelt. Jeder, der schon einmal eine Auslandsüberweisung getätigt hat, kennt die speziellen
Swift-Codes, mit deren Hilfe die Empfängerkonten zugeordnet werden. 15 Millionen Transaktionen werden jeden Tag über dieses System abgewickelt. Dazu unterhielt Swift unter anderem einen Server
im U S-Bundesstaat Virginia.
Auf Grundlage einer
Executive Order
, also einer Anweisung des Präsidenten, hat sich das U S-Finanzministerium nach dem 11. September 2001 ohne jede Einschränkung aus diesem Speicher bedient. Völlig unkontrolliert bezogen die Behörden Daten von Swift-Benutzern,
also Name, Überweisungsbetrag, Bankkontakte und Verwendungszwecke. Als die Sache durch Presseberichte Ende 2006 aufflog, baten
die E U-Außenminister die USA zu Verhandlungen. Doch statt die Frage aufzuwerfen, ob die Datensammelei überhaupt in verhältnismäßiger Weise zur
Terrorbekämpfung beitrug, behandelten die E U-Minister die Angelegenheit wie eine Formsache der Zeitgeschichte. Sie einigten sich mit den USA darauf, die Datenübertragung auf die
Basis eines Kooperationsabkommen zu stellen. Damit erteilten sie ein Plazet für einen Eingriff in Freiheitsrechte, der, wäre
er in den Öffentlichkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten geplant worden, Wogen der Empörung ausgelöst hätte. Statt in aller
Ruhe – und vor allem unter Beteiligungder nationalen Parlamente – zu diskutierten, wie in Zukunft unter Abwägung aller Interessen verfahren werden sollte, sollte
nach dem Willen der Außenminister aus dem »Pull-System« schlicht ein »Push-System« gemacht werden, sprich: Die Amerikaner
saugen die Daten nicht mehr ab, sondern die Europäer liefern sie.
Das Europaparlament zeigte sich empört sowohl über das Vorgehen der Minister wie auch über die weithin als unzureichend betrachteten
Datenschutzklauseln in dem Abkommen. Vor allem aber fühlten die E U-Abgeordneten sich – wie so oft – bevormundet und überfahren von den europäischen Regierungen, die das Parlament offenbar noch immer nicht
ernst nahmen. Am 11. Februar 2010 schlugen die Volksvertreter zurück. Im Plenarsaal zu Straßburg drückten 378 von ihnen auf die elektronische Nein-Taste.
Das Swift-Abkommen war gestoppt. In der Sekunde, in der die Abstimmungszahlen auf der Digitalanzeige aufleuchteten, brandete
Jubelgeschrei auf. Die zuständige Berichterstatterin, eine niederländische Liberale, konnte sich vor Gratulanten, die sie
umarmen und küssen wollten, kaum retten, und ein lang anhaltender stehender Applaus zwang sie schließlich, den Tränen nahe,
sich vor ihren Kollegen zu verbeugen. Die Swift-Abstimmung war, so empfanden es viele Abgeordnete, ein Befreiungsschlag. All
jenen, die das E U-Parlament einfach nicht für voll nehmen wollten, hatten sie jetzt gezeigt, dass es sehr wohl Zähne zeigen kann. Inzwischen ist eine
neue Fassung, bei der die Verwendung von Daten überwacht und ein so genanntes Data-Mining, ein statistisches Datenabgreifen,
verboten ist, abgesegnet. Aber noch immer sind einige Abgeordnete der Meinung, dass durch dieses Abkommen rechtsstaatliche
Prinzipien unterlaufen werden.
Es
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