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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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einen
     solchen Landwirt wird es sich lohnen, wenn ihm eine Bank ein Termingeschäft anbietet. Sie sagt ihm zu, sein Getreide im Herbst
     zu den im Frühling geltenden Preisen (minus einer Gebühr) zu kaufen. Der Bauer hat damit die notwendige Sicherheit, um seinen
     Traktor zu erwerben; die Bank übernimmt das Risiko, dass die Preise fallen könnten – und profitiert davon, wenn sie steigen.
     Gleichzeitig stützt dieses Verfahren die Volkswirtschaft als Ganzes, nämlich in Form des zusätzlich angebauten und in den
     Handel gebrachten Getreides. 44
     
    Das grundlegende Problem kurz vor dem Crash von 2008 war bloß, dass die Höhe der weltweit gehandelten Derivate ein unfassbares
     Missverhältnis zur realen Produktivität des Planeten erreicht hatte. Schon 2001 lag nach Angaben der globalisierungskritischen
     NGO Attac der globale Devisenmarktumsatz pro Tag bei rund 1200   Milliarden Dollar. 30 bis 40   Milliarden hätten zur Abwicklung des Welthandels gereicht, der Rest war spekulatives Kapital. Im Jahr 2002 hatten 80   Prozent der weltweiten Kapitalflüsse von 2000   Milliarden Euro pro Tag eine Anlagedauer von unter sieben Tagen. 45 Das Gesamtvolumen des Derivatemarktes hatte Ende 2009 laut der Bank für internationalen Zahlungsausgleich unvorstellbare
     600   Billionen Dollar erreicht – die Bruttoinlandsprodukte aller Länder der Welt zusammengenommen betrugen nur ein Zehntel dessen,
     etwa 60   Billionen Dollar. Es war also abzusehen, auf welchem Schleuderkurs sich die Weltwirtschaft befand.
    Warum hat Europa dieses Risiko nicht rechtzeitig entdeckt und gegengesteuert? Ohne jeden Zweifel ging es hier einmal um eine
     Materie, die für die Brüsseler Kommission wie geschaffen gewesen wäre. Die Finanzaufsicht muss supranational geregelt werden,
     alles andere läuft auf untaugliche Insellösungen hinaus. Die Sicherheit der Kapitalmärkte ist für eine Wirtschaftsmacht der
     EU von vitalem Interesse. Und auch die Kompetenzen, Zocker an die Leine zu legen, hätte sie gehabt. Doch das harte Thema mit
     der gebotenen Härte anzugehen, dafür fehlte dem zuständigen Binnenmarktkommissar wie auch seinem Kommissionspräsidenten schlicht
     die Entschlossenheit. Immer wieder waren beide, Barroso und Charlie McCreevy, dafür kritisiert worden, es trotz besseren Wissens
     unterlassen zu haben, Vorschläge für eine striktere Regelung der europäischen Finanzmärkte vorzulegen. »Die Politik der Kommission
     war es, weniger zu regeln, weniger zu intervenieren«, ärgert sich der Fraktionschef der europäischen Sozialisten im Europaparlament,
     der Deutsche Martin Schulz (SPD). Den später abgelösten Iren McCreevy nennt Schulz einen »Apologeten einer irregeleiteten
     Marktradikalität«. Tatsächlich war der Mann auf dem Posten wohl eher Bock als Gärtner.
    Barroso und McCreevy ihrerseits schoben die Schuld am Ausbleiben von strikteren Regelungen den E U-Mitgliedstaaten zu. Allen voran Deutschland und Großbritannien hätten sich gegen eine genauere Aufsicht über Finanzprodukte gestemmt. Es
     stimmt schon: Ausgerechnet diejenigen Staaten, die nach Ausbruch derKrise mit dem größten Eifer Rettungspläne entwarfen, insbesondere Großbritannien und Deutschland, hatten zuvor verhindert,
     dass eine strengere E U-Finanzaufsicht eingerichtet wurde.
    Während der deutschen E U-Ratspräsidentschaft sprach der damalige Finanzminister Peer Steinbrück Anfang 2007 das Thema Hedge-Fonds und deren Risiken zwar an, auf die Frage
     aber, ob er eher auf freiwillige Vereinbarungen setze oder Vorschriften und Regulierungen anstrebe, entgegnete er: »Nicht
     so schnell!« Zunächst einmal, gab er zu verstehen, müssten Fakten gesammelt werden. Die Aktivitäten von Hedge-Fonds dürften
     »nicht nur negativ gesehen werden«. Man könne nicht »wie Zieten aus dem Busch gleich mit Folterwerkzeugen kommen«. 46 Regulierungsoptionen wurden nur zögerlich diskutiert, im ätherischen Rahmen der G 7-Finanzminister . In Europa tat sich nichts.
    Laute Mahner, die zu schnellem Handeln rieten, hatte es längst gegeben. Helmut Schmidt warnte seit mindestens Anfang 2007
     vor dem Herdenverhalten von Hedge-Fonds- und Private-Equity-Managern, die von niemandem vor ihrer Kurzsichtigkeit geschützt
     würden. »Es grenzt an groben Unfug, wenn jede kleine Sparkasse unter alltäglicher Aufsicht durch die Behörden steht, andererseits
     aber hundertmal finanzkräftigere private Finanzinstitute vollkommen frei agieren können«, rief der Altkanzler

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