So nicht, Europa!
wird. Alles andere hätte dem deutschen
Limousinenbau unverhältnismäßig schaden können. »Jeder hat hier seine Interessen, bei denen die Gemeinsamkeit aufhört«, sagt
der Rheinland-Pfälzer. »Bei den Briten ist es das Bankenwesen, bei den Franzosen sind es die Agrarsubventionen.« Echte Politik,
sieh an, es gibt sie im Europaparlament. Überall dort, wo die Regulierungskraft der nationalen Systeme wirklich nicht mehr
ausreicht – und diese Bereiche werden immer zahlreicher –, ist die Instanz Europa als stiller Moderator von Realpolitik gefragt.
Doch das richtige Verhältnis zwischen sinnvoller europäischer Harmonisierung einerseits und überflüssigen Versuchen von Sozialmechanik
andererseits hat auch das neue Lissabon-Parlament noch nicht gefunden. Noch immer leidet es unter der ausgeprägten Unwucht,
sich weichen Themen mit zu viel Inbrunst zu widmen und harten Themen mit Konfliktscheue zu begegnen. Am selben Tag, als das
Plenum das Swift-Abkommen blockierte, stimmte es einer Resolution zur »Verhinderung von Nadelstichverletzungen im Gesundheitssektor«
zu. Über dem Haupteingang des Parlamentbaus prangen regelmäßig gewaltige Banner mit wohlmeinenden sozialen Botschaften wie:
»Gewalt gegen Frauen – Wir können sie stoppen!« Das können die Europaabgeordneten keineswegs, und vermutlich wissen sie das. Doch um für seine
segensreichen Leistungen für den Alltag der Europäer zu werben, ist dem Parlament keine Mühe zu groß. Vor der Europawahl 2009
bezahlte es der Werbeagentur Scholz & Friends 28 Millionen Euro, um überall auf dem Kontinent Multimedia-Boxen aufstellen zu lassen, in denen die Bürger per Videobotschaft
ihre Wünsche an die EU hinterlassen konnten. Außerdem wurden Plakate geklebt, auf denen zu lesen war: »Sie haben die Wahl!«
Das Resultat der Millionenaktionen war, dass die Wahlbeteiligung weiter sank.
Immer mehr Abgeordnete, gerade jüngere, stören solche Ablenkungsmanöver und anhaltenden Anbiederungsversuche der Volksvertreter
dem Volk gegenüber. Sie wünschen sich eine Emanzipation, eine bessere und effektivere Performance, inklusive desMuts, bestimmte Kompetenzen auch einmal den Verwaltungen der Mitgliedstaaten zurückzugeben. Sie wünschen sich, kurzum, ein
schnelleres Erwachsenwerden ihres Parlaments. Einer dieser jungen Stürmer und Dränger, ein Grüner, Jahrgang 1982, kommt aus
Niedersachsen. Wer ihn beobachtet, bekommt den Eindruck, dass er es womöglich mit einem Cohn-Bendit einer neuen, erfrischend
nüchternen europäischen Generation zu tun hat. Jan Albrecht sitzt seit dem Sommer 2009 im Europaparlament und sieht auf den
ersten Blick, Schlabberklamotten, wirrer Lockenschopf samt wechselnd langer Barttracht, nicht nach dem Juristen aus, der er
ist, noch dazu ein beeindruckend detailsicherer.
Die Parlamentsentscheidung zur Vorratsdatenspeicherung, erzählt Albrecht, sei es gewesen, die ihn noch während des Studiums
des Europarechts »politisiert« habe. »Von da an war für mich klar, ich muss nach Europa. Wir erleben doch gerade eine Staatlichwerdung
der EU. Das erfordert eine breite Debatte. Es kann nicht sein, dass sich um solche Fragen nur eine Expertenöffentlichkeit kümmert.«
Viel zu lange habe im Europaparlament eine Hinterzimmerpolitik stattgefunden, bei der geschickte Strippenzieher und Lobbyisten
leichtes Spiel gehabt hätten. Deswegen hat sich Deutschlands jüngster Abgeordneter vorgenommen, für »Polarisie rung « zu sorgen, über alle Ebenen hinweg. Europapolitik, fordert Albrecht stellvertretend für viele jüngere Abgeordnete, müsse
auch im Bundestag ausgetragen werden, und zwar kontrovers. »Wir schaffen es sonst nicht, die Leute für Europa zu interessieren.«
Da ist sie wieder, die Idee des »Politisierens«. Im Gegensatz zu Cohn-Bendit klingt Albrechts Version allerdings durchdachter,
analytischer und klarer. Weniger wäre wesentlicher, lautet seine Vorstellung. Regelungen, wie viele Fahrradständer es in Zügen
geben soll? Vorschriften über die Größe von Traktorensitzen? »Müll« nennt der junge Albrecht solche Exzesse ins Kleinliche.
Sie seien ein Überhang aus der Zeit, in der die Europäische Union sich vor allem als Motor zur Binnenmarktharmonisierung verstand.
Das müsse sich dringend ändern. Notfalls eben mit ein paar Befreiungsschlägen mehr. Auf seine Schlabber- T-Shirts will Albrecht trotzdem vorerst nicht verzichten. Das mache das Europaparlament eben auch
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