So nicht, Europa!
Finanzmarkteinbrüche auf der Insel umsah, bekam eine Ahnung davon, welch enormer Stresstest Europa bevorstehensollte. In den 90er-Jahren erlebte die Grüne Insel einen nie da gewesenen wirtschaftlichen Aufstieg. Offensives Standortmarketing,
Niedrigsteuern und die geschickte Verwendung von E U-Strukturmitteln lockten Investoren aus Europa und Übersee ins Land. Die Hochtechnologie, die Banken- und Versicherungsbranche boomten, und
schon bald speisten zweistellige Wachstumsraten das selbstgewisse Bild vom »keltischen Tiger«. Die Ladenmieten entlang Dublins
malerischer Einkaufsgässchen erreichten europäische Spitzenwerte. Bis die Krise kam, hatte Irland, gerade wegen seiner Randlage,
vom besten beider Welten profitiert: von fantastischen U S-Direktinvestitionen und von endlos sprudelnden E U-Subventionen sowie (seit dem Beitritt zur Währungsunion 1999) von der Stärke des Euro. 2005 bescheinigte der United Nations Development
Index dem ehemaligen Armenhaus Irland den höchsten Lebensstandard innerhalb der EU.
»Wirtschaftspolitisch sahen wir uns in der goldenen Mitte zwischen Boston und Berlin«, sagt ein Beamter des irischen Finanzministeriums.
Er sitzt in Reilly’s Pub in Dublins Lower Merrion Street und dreht ein Guinness-Glas in der Hand. Das Ministerium liegt keine
zweihundert Meter entfernt, und an einem Freitagabend um kurz nach neun Uhr schieben sich immer mehr seiner Kollegen, noch
im Anzug, durch die Eingangstür der holzgetäfelten Eckkneipe. Einige Biergläser später resümiert der Beamte die vergangene
Arbeitswoche und verortet sein Land in einer neuen geowirtschaftlichen Breite: »Die Entfernung zwischen Irland und Island
sollten wir ab jetzt vielleicht besser in Wochen berechnen als in Meilen.« Wie unter einem Brennglas zeigte sich in Irland,
was der Teufelskreis aus Kreditklemme und Jobverlusten innerhalb kürzester Zeit in einem wohlhabenden Land anrichten kann.
Binnen weniger Monate waren mehrere Banken kollabiert und die Arbeitslosigkeit von quasi null auf zehn Prozent emporgeschnellt.
Die Anzahl der Arbeitslosen erhöhte sich innerhalb von zwölf Monaten um 88 Prozent. 43 In einer ebenso steilen Kurve wuchs die Wut auf die Regierung.
In den größten Demonstrationswellen, die das Land seit dem Osteraufstand 1916 gegen die Briten je gesehen hatte, zogen Zehntausende
Bürger durch die Straßen, um gegen das Krisenmanagement der Regierung zu protestieren. Zu klagenden Lauten irischer Dudelsäcke
marschierten Gewerkschafter, Krankenpfleger, Polizisten und Feuerwehrleute durch Dublin und andere Städte. Einejunge Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschob, berichtete, ihrem Mann sei gerade gekündigt worden, und die monatliche
Hypothekenrate für ihr Haus betrage 1500 Euro. »Wir müssen zwei Kinder ernähren. Aber wovon denn jetzt?« Weg mit dieser Regierung!, forderte sie im Reigen einer wachsenden
Mehrheit. Im Laufe des kommenden Jahres sollten sich genau solche Szenen fast überall in Europa abspielen; in Paris, Madrid,
Lissabon, Berlin, Vilnius und Athen. Die Menschen machten ihrer Wut Luft über jene Kasino-Kapitalisten, die, gesteuert von
enormer Gier und geringem volkswirtschaftlichen Verstand, die Weltwirtschaft in ein gigantisches Netz von Spekulationen und
Risikoanlageformen wie Hedge-Fonds und Credit Default Swaps verstrickt hatten. Beim Kassensturz im Herbst 2008 zeigte sich,
wie hoch die Banker Boys gepokert hatten. »Diese Krise ist schlimmer als eine Scheidung«, lautete eine der vielen zynischen
Witze, die sich Investmentbanker in diesen Tagen über ihre Blackberries zuspielten, »ich habe die Hälfte meines Vermögens
verloren und bin immer noch verheiratet«.
Grundsätzlich ist eine gewisse Jonglierkunst in der Finanzbranche kein Teufelszeug. Im Gegenteil, Finanzderivate wie Optionen
oder Termingeschäfte erfüllen nützliche Zwecke in der Ökonomie. Das lässt sich an einem einfachen Beispiel mit einem Landwirt
vor Augen führen, der im Frühling nicht weiß, ob er sich für seine Arbeit einen neuen Traktor anschaffen soll oder nicht.
Beim aktuellen Stand der Getreidepreise würde sich die Investition lohnen, da er mit einem Traktor mehr anbauen könnte und
somit einen zusätzlichen Gewinn hätte. Allerdings kann er erst im Herbst ernten – und wenn die Preise bis dahin fallen und
er sein Getreide dann billiger verkaufen muss, lohnt sich die Investition nicht, und er ruiniert sich womöglich. Für
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