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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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Es besitzt die Anziehungskraft eines Grabsteins,
     und seine Innenarchitektur changiert zwischen dem Charme einer Kleinstadteisdiele und der Hermetik eines Hochsicherheitsgefängnisses.
     Hier übertrumpfen westeuropäische Großmächte osteuropäische Neulinge, hier fließen Schweiß, Tränen und Millionen. Hier haben
     nur die Mächtigsten samt ihrer Kofferträger aus allen Himmelsrichtungen Zutritt. Das Gebäude ist benannt nach Justus Lipsius,
     einem weithin unbekannten reisenden Humanisten des 16.   Jahrhunderts. Wenn Angela Merkel oder Guido Westerwelle nach Brüssel kommen, dann steigen sie in dem Protokollhof aus ihren
     schwarzen Limousinen. Sie schütteln die Hand des Ratsvorsitzendenund halten Ausschau nach den orangen oder blauen Logos der deutschen T V-Sender . Die recken ihre Mikrofonangeln hektisch nach vorne über den roten Teppich, an dessen abgesperrtem Rand sich ein ganzer Wald
     von Kameras und Scheinwerfern aufgebaut hat. Wie am Hintereingang eines Fußballstadions wollen die Reporter wissen: Wie sind
     wir heute drauf? Machen wir unser Tor? Denn nicht immer gelingt in diesen Mauern, was die EU sich auf die Fahnen geschrieben
     hat: nationale Egoismen und Eitelkeiten hinter sich zu lassen.
    In diesem Gebäude, erklären wir Comte so schonend wie möglich, treffen sich jeden Tag die Diplomaten der 27   E U-Staaten zu Arbeitsgruppen. Regelmäßig kommen hier auch ihre Fachminister zusammen. Und alle drei Monate halten die Regierungschefs
     hier ihre europäischen Gipfel ab. Bis in die späte Nacht feilschen sie dann um Macht, Geld und Ruhm. Tief im Innern des Gebäudes
     gibt es sogar einen Raum, den sie den »Beichtstuhl« nennen. Er hat eine schalldichte Tür und ist beleuchtet von Neonröhren.
     In ihm werden die ganz renitenten Staatschefs vom Vorsitzenden des Rates einzeln ins Gebet genommen, wenn sie Beschlüsse blockieren.
     Kann man sich vorstellen, wie dem armen Comte jetzt die Gesichtszüge entgleisen?
     
    Im Januar 2009, die Tschechische Republik hatte gerade die Ratspräsidentschaft der EU übernommen, hängte der tschechische
     Künstler David Cerny eine gigantische Installation in der Eingangshalle des Ratsgebäudes auf. An einem blauen Röhrengerüst
     waren Skulpturen befestigt, die die 27   Mitgliedsländer symbolisieren sollten, meistens nicht besonders freundlich. Die Niederlande waren ein Flutgebiet, aus dem
     bloß noch Minarette herausschauten. Polen war ein Kartoffelacker mit Priestern drauf, Schweden ein Ikeakarton und Deutschland
     ein Autobahnnetz, in dem stereotyp denkende Menschen ein Hakenkreuz erkennen konnten. Mit einer bestimmten Skulptur allerdings
     überspannte Cerny die europäische Liberalität und Toleranz. Bulgarien war als Stehtoilette dargestellt. Diese Sanitäranlagen,
     verbreitet vor allem in Südosteuropa, werden im Englischen als
turkish toilets
bezeichnet.
    Bulgarien war jahrhundertelang Teil des Osmanischen Reiches, und die Erinnerung daran erbittert viele Menschen dort noch heute.
     Was der Künstler mit der röhrenumrandeten Keramik womöglich auch andeuten wollte, ist die Tatsache, dass in Bulgarienjedes Jahr wegen endemischer Korruption viele Millionen Euro Brüsseler Fördermittel in privaten Kanälen versickern. Der bulgarische
     E U-Botschafter indes wollte sich auf keine Diskussionen einlassen. Er forderte, das Klo müsse verschwinden. Und die Tschechen verlangten
     von Cerny ihr Geld zurück. Als Sofortmaßnahme wurde die Toilette mit einem schwarzen Tuch überhängt – was jedem, der das Ratsgebäude
     betrat, eine glatte Kunstzensur vor Augen hielt. Die Angelegenheit war ein Lehrstück über die persistente Kraft des Nationalismus
     und der Wertedifferenzen im Vielvölkerstützpunkt Brüssel.
     
    Wer die Wahrheit über das politische Wesen der EU sucht, der muss sich mitten auf die Rue de la Loi stellen und den Blick
     wandern lassen. Hin und her. Vom Berlaymont, der supranationalen Dimension Europas, wo gepoolte staatliche Souveränität verwaltet
     wird und Technokraten abstrakt formulierte »Gemein schaftsinteressen « in Richtlinien gießen, über Agrarbeihilfen, über Wettbewerbsrecht, über Freihandel. Und hinüber zum Rat, der intergovernmentalen
     Dimension Europas, wo die Staatschefs erbittert um Konsens im Großen ringen. Für Militärmissionen. Für Klimapakete. Für Bankenrettungen.
     Das Berlaymont ist die Gebäude gewordene Folge zweier Weltkriege. Der Rat ist die Arena jener einzelstaatlichen Machtansprüche,
     die sie

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