Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

Titel: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Schlingensief
Vom Netzwerk:
frage mich, ob das tatsächlich gut ist, so schnell wieder in einer gewissen Öffentlichkeit zu stehen. Ich brauche da, glaube ich, Selbstschutzauflagen. Ich will auch nicht, dass es dann gleich wieder heißt: Ja, ja, der unverwüstliche Schlingensief … Ich bin eben nicht unverwüstlich, ganz im Gegenteil. Außerdem habe ich gerade das starke Bedürfnis, aufs Land zu fahren, für ein, zwei Wochen ein Ferienhäuschen zu mieten und einfach Bäume zu sehen, Vögel zu hören und spazieren zu gehen. Eine persönliche Auszeit, die mir erlaubt, über diese Sache etwas nachzudenken und mich zu beruhigen.
    Im Augenblick ist die Sehnsucht nach Natur so groß, dass ich die Deutsche Oper tatsächlich fragen sollte, ob sie die Johanna verschieben können. Denn ihr Angebot, die Inszenierung mit einem Monitor vom Bett aus zu machen, ist schwierig. Das hieße, ich sehe mir vom Bett aus die Proben an, telefoniere mit der Regieassistentin, und die rennt dann mit einem Mikrofon über die Bühne und erzählt, was ich gerade will. Also, ich weiß nicht … Im Kern bin ich jemand, der auf der Bühne herumhampelt, die Leute anbrüllt und Sachen vorspielt, im Notfall mit einem Farbeimer alles zusaut. Und ich weiß nicht, was bei der Inszenierung rauskommt, wenn ich das alles nicht machen kann und stattdessen auf irgendeinem Sofa rumhänge.
    Ich werde in Ruhe die Histologie abwarten und dann entscheiden. Ich finde, die Entscheidung muss davon abhängen, wie viel Zeit mir überhaupt bleibt. Wenn die Histologie sagt, na ja, Risiko, der Typ kann eigentlich davon ausgehen, dass das wiederkommt, da braucht er gar nicht mehr lange zu warten, bedeutet das für mich, bloß keine Zeit zu verlieren, zu arbeiten und zu machen. Wenn sie aber sagt, das kriegt der hin, das Ding ist gar nicht so schlimm, mit der Chemo kriegen wir es weg, dann mache ich die Oper nicht, dann erhole ich mich erst mal.Viele würden es wahrscheinlich umgekehrt machen, aber ich glaube, dass ich die Arbeit brauche, wenn es schlechte Nachrichten gibt.

    Erinnern heißt vergessen.
     
    Eins ist allerdings klar: Man kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, auch wenn Carl vorhin meinte, wir hätten in unserer Arbeit ja immer schon mit dem Tod zu tun gehabt. Er sagte wunderbar lakonisch: Wir bringen uns auf der Bühne um und gehen nachher Pizza essen. Im besten Fall war das auch so. Aber genau da setzt der Wechsel ein. Jetzt ist etwas passiert, da kann ich im Anschluss an die Probe nicht einfach Pizza essen gehen und so tun, als sei nichts. Ich kann auch nicht auf der Bühne rumtoben und Tod spielen. Das geht nicht mehr, zumindest nicht so, wie ich das bis jetzt gemacht habe. Denn ich werde mich permanent an die Guillotine erinnern, auf der ich in der Wirklichkeit liege oder auf der ich zumindest gelegen habe. Wie das meine Arbeit verändert, weiß ich noch nicht, das muss ich eben herausfinden. Vielleicht hilft mir beim Nachdenken darüber die tolle E-Mail von Luc Bondy, die ich heute Abend bekommen habe. Er hat wohl vor Kurzem diesen berühmten Neurologen, Eric Kandel, kennengelernt. Kandel ist Entdecker dieses Proteins, das eine wichtige Funktion beim Erinnern spielt. Dieses Ding, so sagt er, ist die Erklärung dafür, dass das Gedächtnis schwimmt und man sich niemals an eine Sache exakt gleich erinnert. Vielleicht an Zahlenkolonnen, aber eben nicht an Geschichten, an Erlebnisse. Es wird immer etwas anderes draus. Da musste ich daran denken, dass ich bei der Vorbereitung für den »Parsifal« in Bayreuth bei einer Szene in das Textbuch »Erinnern heißt vergessen« geschrieben habe. Das heißt, dass jede Erinnerung eine Übermalung des Ereignisses ist und je nach Übermalung eben auch viel vergessen wird. Fragt sich, wann und wie ich die Übermalung meiner eigenen Guillotine in Angriff nehmen kann.

    Was ist der Wert des Leidens in der Welt?
     
    Als ich vorhin an meine »Parsifal«-Inszenierung denken musste, kam auch wieder die Frage nach dem Sinn des Leidens hoch. Das lässt mich nicht mehr los: Was ist der Wert des Leidens in der Welt? Und warum wird es nicht mehr wahrgenommen? Beuys sagt, dass das Leiden hörbar sei. Ich zitiere ihn jetzt mal: »Das Leiden ist ein bestimmter Ton in der Welt. Er ist hörbar. Man sieht ihn wohl auch. Wer sich einmal anstrengt, solches wahrzunehmen, der sieht im Leiden ständig eine Quelle der Erneuerung. Es ist eine Quelle von kostbarer Substanz, die das Leiden in die Welt entlässt. Da sieht man, es ist wohl eine unsichtbar-sichtbare

Weitere Kostenlose Bücher