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So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)

Titel: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Schlingensief
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man nicht an Gott und preist ihn, wenn man sich freut, auf der Welt zu sein, wenn man sich freut, dass tolle Sachen passieren? Warum kommt er immer erst dann ins Spiel, wenn man feststellt: Na klasse, Familie weg und Krebs und wieder kein Sechser im Lotto. Man müsste das Gottesprinzip viel stärker als frohe Botschaft etablieren, als frohen Gedanken, als Freiheitsgedanken, als Friedensgedanken. In jedem Kopf, in jeder Religion, in jedem Wesen, überall.
    Das war also mein Karfreitag. Jesus, ich denke an dich, danke allen Schutzengeln und allen, die mithelfen. Amen.

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    Dienstag, 1. April
    Heute bin ich zur Deutschen Oper gefahren, weil ich mal schauen wollte, was das Regieteam aus meiner »Johanna« macht. Ende April soll ja Premiere sein.
    Ich war ein bisschen nervös, aber es gab einen sehr herzlichen Empfang und ich habe mich sehr schnell wohlgefühlt. Was ich gesehen habe, ist schon ziemlich schlimm. Alles so Larifari-Gänge, irgendwelcher Blödsinn, den die da zurechtzimmern. Macht mich nicht besonders an, aber es gibt schlimmere Katastrophen. Während der Probe habe ich irgendwann sogar Mut gefasst und bin auf die Bühne gesprungen – na ja, eher langsam hochgestiegen. Jedenfalls habe ich der Sängerin der Johanna ein paar Hinweise gegeben und sogar ein bisschen vorgespielt. Das sah bestimmt ulkiger aus als früher, ich war auch schneller erschöpft, aber stolz, dass ich wieder so ein Tempo und so eine Lust am Vorspielen hatte. Fürs erste Mal war das toll. Ich habe mich sogar einmal auf den Boden geworfen, das ging dann doch noch nicht so gut, aber man lernt ja dazu.
    Irgendwann habe ich mich ins Foyer zurückgezogen und mit Aino beratschlagt, was ich abschließend sagen soll. Dann bin ich wieder rein und habe eine kleine Ansprache vor allen Leuten gehalten. Sie kam ganz gut an, glaube ich, sie hat zumindest einen Eindruck von der Kraft hinterlassen, die ich mir für die Aufführung vorstelle. Dann sind Aino und ich noch zu einem chinesischen Restaurant gefahren, weil ich Hunger bekam. Aber als das Essen auf dem Tisch stand, war er plötzlich weg, ich habe nur fünf kleine Frühlingsrollen gegessen, mehr habe ich nicht runtergekriegt.

    Seitdem ich im Theater war, in meine alte Arbeit eingetaucht bin, meine Leute wiedergetroffen habe, frage ich mich natürlich wieder, was das für eine Arbeit war, die ich bis jetzt gemacht habe. Überlege, ob und wie ich diese Arbeit unter den neuen Bedingungen weitermachen und das Erlebte sinnvoll für die Bühne transformieren kann. Vor allem frage ich mich, ob die Bühne der richtige Ort ist, um Begegnungen zwischen Menschen zu erzeugen. Vor ein paar Tagen habe ich einen Satz von Beuys gelesen, der mir zu denken gibt. Da heißt es in einer seiner Performance-Anweisungen: »Der Wärmekuchen wird hinter geschlossenem Vorhang auf die Bühne getragen, bei geöffnetem Vorhang entlädt der Wärmekuchen seine Last.« Fragt sich, welchen Vorhang Beuys meint. Den Vorhang im Theater, wo alle davorsitzen und glotzen? Wäre der Wärmekuchen nicht besser dran, wenn der Vorhang sich nicht öffnet, weil er sonst seine Wärme verliert? Oder ist es gut, wenn der Vorhang aufgeht, damit die Last sich entladen kann?

    Treffen sich zwei Wärmekuchen und lassen ihre Last ab.
     
    Aber bei Beuys steht nichts von Zuschauern. Also kann ich vielleicht auch sagen: »Ich bin der Wärmekuchen und ich habe Last und ich lasse sie ab, ohne dass jemand zuschaut.« Oder ich kann sagen: »Ich lasse meine Last ab, indem ich jemanden treffe, der mir seine eigene Last zeigt.« Treffen sich zwei Wärmekuchen und lassen ihre Last ab. Der eine hilft dem anderen. Dann habe ich keinen Zuschauer mehr, sondern einen Mitarbeiter. Das ist doch vielleicht viel besser.

    Ich spüre, wie sehr ich mich gerade danach sehne, mit anderen Menschen Last zu teilen. Vielleicht nicht zu teilen, sondern einfach anderen Menschen mit ihrer Last zu begegnen. Ich glaube zwar, dass es sauschwer ist, solche echten Begegnungen zu erleben. Das System ist nicht nur eingefahren, sondern fast schon festgebacken. Aber man muss es versuchen. Ich will es versuchen. Deswegen muss ich mich demnächst unbedingt auf den Weg machen, auch Leute zu treffen, mit denen ich nicht irgendein Projekt machen will und die nichts von mir erwarten. Ich habe doch die Fähigkeiten mitbekommen zu sprechen, zu denken und zu beobachten. Und wenn ich diese Fähigkeiten einsetze und mich dafür bedanke, dass ich sie habe, dann kann ich mich jedem nähern. Dann

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