So soll er sterben
erklärte Rebus.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Ich kann manchmal Gedanken lesen. Eine Gabe, die ich von meinem Vater geerbt habe. Und er von seinem Vater…« Nun trat Rebus seine Zigarette aus. »Mein Großvater stammte übrigens aus Polen. Wir waren nie eine reinrassige Nation, Charlie – finden Sie sich endlich damit ab.« Mit diesen Worten ging Rebus auf Siobhan Clarke zu, die gerade eingetroffen war. Sie ließ für einen Moment die Umgebung auf sich wirken.
»Dabei hat man sich in den Sechzigerjahren so viel von Beton versprochen«, bemerkte sie. »Und was die Wandgemälde betrifft…«
Rebus nahm die Sprüche überhaupt nicht mehr wahr: KANAKEN RAUS… SCHEISS PAKIS… WHITE POWER… Irgendein Scherzkeks hatte versucht, in »power« ein »d« hineinzuquetschen, um »white powder«– weißer Puder – daraus zu machen. Rebus fragte sich, wie viel Macht die Dealer in der Siedlung hatten. Vielleicht ein zusätzlicher Grund für die Feindseligkeiten. Die Ausländer konnten sich Drogen wahrscheinlich nicht leisten. SCHOTTLAND DEN SCHOTTEN. Ein älteres Graffito war von JUNKIES VERPISST EUCH in NEGER VERPISST EUCH geändert worden.
»Nett hier«, sagte Siobhan. »Danke für die Einladung.«
»Kein Mitbringsel für mich?«
Sie gab ihm die Zigaretten. Er küsste die beide Schachteln und steckte sie sich in die Tasche. Davidson und Reynolds waren im Container verschwunden.
»Erzählen Sie mir jetzt die Geschichte?«, fragte er.
»Zeigen Sie mir jetzt Knoxland?«
Rebus zuckte die Achseln. »Von mir aus.« Sie setzten sich in Bewegung. Die Siedlung wurde von vier achtstöckigen Hochhäusern dominiert, die an den Ecken eines Platzes aufragten, in dessen Mitte sich ein trostloser Spielplatz befand. In jeder Etage gab es einen Laufgang, und jede Wohnung verfügte über einen Balkon mit Blick auf eine der beiden Schnellstraßen.
»Ziemlich viele Satellitenschüsseln«, stellte Siobhan fest. Rebus nickte. Auch er hatte sich Gedanken über die Schüsseln gemacht, über das Bild von der Wirklichkeit, das sie in die Wohnzimmer und die Köpfe der Menschen übertrugen. Tagsüber wurde für Unfallversicherungen, abends für Alkohol geworben. Eine ganze Generation wuchs in dem Glauben auf, man könne das Leben mithilfe der Fernbedienung kontrollieren.
Inzwischen wurden Siobhan und Rebus von mehreren Kindern auf Fahrrädern umkreist. Andere lungerten vor einer Mauer herum und teilten sich eine Zigarette sowie den Inhalt einer Limonadenflasche, der allerdings nicht wie Limonade aussah. Sie trugen Baseballmützen und Turnschuhe, eine Mode, die aus einer anderen Kultur den Weg zu ihnen gefunden hatte.
»Der ist zu alt für dich!«, brüllte einer der Jungs, gefolgt von Gelächter und dem üblichen schweineartigen Gegrunze.
»Ich besorg’s dir besser als er!«, rief dieselbe Stimme.
Sie marschierten weiter. Der Tatort wurde an beiden Enden von zwei Uniformierten bewacht, die mit ihrer Geduld langsam am Ende waren, weil sie ständig gefragt wurden, wieso man den Verbindungsgang nicht benutzen durfte.
»Bloß weil irgendwer so’n Schlitzauge abgemurkst hat.«
»War kein Schlitzauge, war ’n Eseltreiber, hab ich gehört.«
Die Stimme wurde lauter: »He, Mann, wieso dürfen die beiden durch un’ wir nich’? Das ist Diskriminierung, jawohl…«
Rebus war mit Siobhan an dem Uniformierten vorbeigegangen. Viel zu sehen gab es allerdings nicht. Der Boden war noch immer voller Blutflecken, und es roch nach wie vor nach Urin. Jeder Quadratzentimeter der Mauern war mit Schmierereien bedeckt. »Wer immer er war, jemand trauert um ihn«, erklärte Rebus leise, als er einen kleinen Strauß Blumen am Tatort liegen sah. Genau genommen war es kein richtiger Strauß, sondern nur eine Hand voll Wildhafer und einige Pusteblumen, irgendwo am Straßenrand gepflückt.
»Ob uns der- oder diejenige damit etwas sagen will?«, fragte Siobhan.
Rebus zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte er oder sie kein Geld für Blumen oder wusste nicht, wo man welche bekommt.«
»Leben wirklich so viele Ausländer in Knoxland?«
Rebus schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht mehr als sechzig oder siebzig.«
»Das sind aber sechzig oder siebzig mehr als vor ein paar Jahren.«
»Ich will doch nicht hoffen, dass Sie ein weiblicher Rat-Arse Reynolds werden wollen.«
»Nein, ich versetze mich lediglich in die Lage der Menschen hier. Viele mögen es nicht, wenn Ausländer oder Leute, die auch nur ein bisschen fremdartig aussehen, in ihrer
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