So still die Nacht
sich zurückhaltend zu äußern. Jetzt war wahrscheinlich nicht der richtige Zeitpunkt, um ihre Tante darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie Lord Alexander die Erlaubnis gegeben hatte, sie aufzusuchen.
Sie sagte: »Lord Alexander interessiert sich anscheinend sehr für einige der archaischen Sprachen, auf die mein Vater spezialisiert war, und ebenso für die Artefakte, die er gesammelt hat. Vielleicht steckt hinter seinem Interesse gar nicht mehr.«
Die Antwort schien Lucinda zu gefallen. Ihre Gesichtszüge entspannten sich, und mit einem flüchtigen Blick auf Minas Gesicht und Haar kam sie zu dem Schluss: »Ich glaube, dass Sie recht haben.«
Mina war sich nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte.
Lucinda berührte ihre Wange. »Sie sind sehr lieb. Ich bin davon überzeugt, Sie werden noch viele wunderbare Herren kennenlernen, wenn es an der Zeit ist. Niemand kann vernünftige Entscheidungen treffen, wenn sein Verstand von Trauer umwölkt ist.« Sie lächelte plötzlich. »Sobald wir das Gartenfest am Donnerstag hinter uns haben, würde ich Sie gern mit zu meiner Schneiderin nehmen. Vielleicht könnten Sie sich schon ein paar Kleider aussuchen, die Sie nächstes Jahr nach der Trauerzeit tragen könnten.«
Es klopfte, und Lucinda ließ Mina kurz allein, um die Tür zu öffnen. Als sie zurückkehrte, hielt sie ein Tablett in den Händen. »Ich dachte, dass Sie vielleicht hungrig sind. Ich habe Ihnen das Abendessen heraufbringen lassen.«
»Das ist sehr freundlich.«
Lucinda stellte das Tablett auf Minas Schoß ab. »Wie köstlich das alles riecht. Aber wir müssen um neun an dem Dinner bei den Nevells teilnehmen und dann um elf an Lady Winbournes Ball, also kann ich unmöglich etwas zu mir nehmen. Stattdessen sollte ich mich lieber anziehen und dafür sorgen, dass die Mädchen das Gleiche tun.«
Ein Teil von Mina wünschte sich, sie würde ebenfalls ein farbenfrohes Kleid anziehen und zu einem Fest gehen können. Aber natürlich müsste sie noch neun Monate lang um ihren Vater trauern. Nicht nur das, auch ihr Bein war zur Hälfte weggerissen worden, zumindest nach Auffassung aller. Sehnsüchtig fragte sie sich, ob Mark bei den Nevells oder bei Lady Winbourne sein würde. Wann würde sie ihn wiedersehen?
»Ich wünsche dir eine wunderbare Nacht«, sagte Mina und schaute auf ihren Teller hinab.
Da waren gekochte Rüben und … etwas, das sie nicht erkannte. Ein wohlduftendes Mischmasch aus geschnetzeltem Fleisch und Gemüse. Mehrere schmale, stockähnliche Dinge ragten aus dem kulinarischen Gemisch auf. Sie pikste eins an. Ein Knochen? Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Das riecht tatsächlich sehr … gut.« Sie schluckte und schaute auf. »Können Sie mir verraten, was dies hier ist? Nicht die Rüben, das andere.«
Lucinda hielt inne, die Hand auf der Klinke.
»Eins meiner Lieblingsgerichte. Es ist natürlich Taubenpastete.« Mit einem Lächeln zog sie die Tür hinter sich zu.
Mina faltete ihre Serviette auseinander und legte das Tuch über den Teller. Dann hob sie das Tablett von ihrem Schoß, rutschte an den Rand der Matratze und stellte das unangetastete Tablett in den Flur. Wieder in ihrem Zimmer, erwog sie, einige der Bücher zu lesen, die sie aus der Bibliothek mitgenommen hatte, aber ihre Gedanken waren zu wirr, um sich überhaupt konzentrieren zu können.
Ihr Blick fiel auf die Mappe mit den Papieren ihres Vaters. Sie konnte das nicht ewig aufschieben. Jetzt war eine ebenso gute Zeit wie jede andere, um damit anzufangen, sie zu sortieren. Der Verband lockerte sich, und sie hielt inne, um ihn von ihrer Wade zu wickeln. Sie warf den schmalen Streifen Stoff in den Papierkorb und griff nach der Mappe. Dann setzte sie sich damit auf ihr Bett statt an den Schreibtisch. Als sie auf den kühlen Laken saß, löste sie die schmale Kette, die sie um den Hals trug, schloss mit dem kleinen Schlüssel daran die Mappe auf und hob die Lasche an. Sofort drang ihr der Duft ihres Vaters in die Nase – ein Geruch nach Papier, Tinte und Tabak.
Sie legte die Notizbücher auf einen Stapel und die losen Blätter und Zettel auf einen anderen. Es waren Diagramme und Listen, ebenso wie Notizen und von Hand gezeichnete Karten.
Ein Tropfen fiel auf ein Blatt und verwischte die Tinte. Mina tupfte es vorsichtig mit einer Ecke ihres Nachthemds ab, damit das Wort nicht unleserlich wurde. Sie wischte sich über die Augen. Keine Tränen mehr. Sie hatte vor langer Zeit aufgehört, um ihren Vater zu weinen.
Nachdem sie
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