So still die Nacht
das nächste Blatt herausgenommen hatte, hielt sie inne. Etwas lag unter diesem Blatt – etwas, das nicht dorthin gehörte. Eine Rose. Sie nahm sie am Stiel hoch. Sie war flach und trocken, als sei sie für einige Zeit zwischen schweren Büchern gepresst worden wie ein Erinnerungsstück. Obwohl die Farbe verblasst war, ließ sich die Zeichnung der Blütenblätter trotzdem noch erahnen – gestreift … rot und weiß.
In ihrem Kopf schrillten alle Alarmglocken. Vor drei Monaten war sie diejenige gewesen, die jeden noch so kleinen Zettel gesammelt hatte, der in die Ledermappe kam – zugegebenermaßen hektisch, im Zelt ihres Vaters im tibetischen Gebirge. Dennoch war sie sich ganz sicher, dass sie keine rot-weiß gestreifte Rose in die Mappe gelegt hatte.
Sie rollte sich über die Kissen und öffnete ihre Nachttischschublade. Dann stöberte sie darin, bis sie den kleinen, zusammengefalteten Zettel mit Spruchweisheiten über Blumen fand, den sie aus ihrer Dose mit Orangenblütenseife hatte.
Sie zog den Finger über das Papier zu der Stelle, wo Rosen aufgeführt waren.
Rot und weiß …
Eine Liebe, die nicht geteilt werden konnte.
7
Zwei Tage später streifte Mark durch die Flure des Trafford’schen Hauses. Alles, was in der Londoner Gesellschaft Rang und Namen hatte, drängte sich in den Salons und Galerien. Da waren schöne Frauen in Gewändern von Doucet und Worth. Kerzenlicht und kristallene Lüster beleuchteten ihre strahlenden Gesichter. Herren in Abendkleidung spreizten ihr Gefieder wie Pfauen. Mehrere alte Männer stellten farbige Schärpen und glitzernde Medaillen der verschiedenen Orden des Empires zur Schau. Die fröhlichen Klänge eines ungarischen Folklore-Orchesters übertönten die Stimmen des lebhaften Gedränges.
Ein Blütenmeer verteilte sich auf schwere, dekorative Vasen und Blumenampeln, die über den gewölbten Türen hingen. Die Feier war bereits seit Stunden im Gang; begonnen hatte sie als spätnachmittägliches Gartenfest. Auf der Einladung hatte gestanden, dass es ein förmliches Dinner geben würde und später Tanz auf der Terrasse, der bis in die Nacht fortdauern sollte. Mark schlenderte durch den Ballsaal, fand aber keine Tänzer – und keine Mina. Stattdessen sammelten Diener Besteck und Porzellan von den langen Tischreihen ein, die Überreste eines förmlichen Mahls.
Er hatte Mina am Tag zuvor nicht aufgesucht, aber Leeson ausgeschickt, das Haus der Traffords zu beobachten. Nach dem Bericht über den »zufälligen« Überfall auf sie und den Schuss mit der Schrotflinte konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass sie in Gefahr war. Doch er musste zwangsläufig auf dem Fluss bleiben und die fortgesetzte Suche nach Körperteilen weiterverfolgen. Obwohl er kein Schattenwächter mehr war, ließen sich alte Gewohnheiten nur schwer abschütteln.
Heute Morgen war auf Höhe der Copington Wharf der Rumpf einer Frau gefunden worden, eingepackt in zugeschnittene Kleidungsstücke und mit einer Schnur zusammengebunden … wieder nur einen Steinwurf von der Thais entfernt. Obwohl er mehrmals Selenes Weg gekreuzt hatte, konnte er den Verdacht nicht abschütteln, dass der Mörder ihn verspottete. Ihn anstachelte. Danach trachtete, ihn zum Kampf hervorzulocken. Eine solche Absicht würde auf die Existenz eines mächtigen Brotos in London hinweisen, auf einen, dem gegenüber er als ausgestoßener Schattenwächter keine Macht hatte.
Trotz alldem musste man nicht davon ausgehen, dass die verstümmelten Überreste das Werk des Themse-Mörders waren, der schon während der Ripper-Verbrechen vor sechs Monaten seine ebenfalls grauenvollen Hinterlassenschaften in der Stadt verteilt hatte. Eine Anzahl von Krankenhäusern lag in Flussnähe. Es war durchaus möglich, dass die Körperteile ungesetzmäßig entsorgte Reste medizinischer Experimente waren. Es wäre nicht das erste Mal, dass man solche Entdeckungen machte. Tod und grausige Zwischenfälle waren eine bedauerliche, aber vorhersehbare Realität des Flusses. In einem einzigen der letzten Jahre waren in der Themse mehr als fünfhundert Leichen entdeckt worden.
Schließlich stieß er auf Minas Spur und folgte ihr bis in den gelben Salon. Dort kniete sie in ihrem schlichten schwarzen Kleid vor Evangeline. Mit Nadel und Faden flickte sie einen kleinen Riss im Rock der Debütantin. Astrid stand an der gegenüberliegenden Wand, starrte in einen goldgerahmten Spiegel und kniff sich in die Wangen. Als sie sein Spiegelbild sah, fuhr sie herum, ein Wirbel
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