So still die Toten
Polizeieskorte bestellen und ins King’s fahren würde, wo ihre Schwester auf sie wartete.
Angie rieb sich die Augen und warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon zehn. »Ich muss raus hier.«
Auch Charlotte war noch in der Kanzlei, und als Angie hörte, wie ihre Chefin durch den Flur nach hinten ging, wurde ihr klar, dass es Zeit war, Schluss zu machen.
Sie stand auf und lauschte, wie Charlotte das Sicherheitsschloss an der Hintertür abschloss und wieder aufschloss. Sie hatte die Angewohnheit, diesen Vorgang mehrere Male zu wiederholen, bis sie sich vergewissert hatte, dass die Tür auch wirklich abgeschlossen war.
Angie kannte Charlottes Marotten seit Langem, aber in der letzten Woche, nach dem Tod von Sierra und Lulu, war es schlimmer geworden.
Angie schaltete ihre Schreibtischlampe aus, griff nach Tasche und Mantel und verließ ihr Büro. Charlotte stand an der Hintertür und machte einen besorgten Eindruck.
»Alles in Ordnung. Die Tür ist abgeschlossen.«
Charlotte fuhr zusammen und wandte sich zu ihr um. »Ich weiß. Ich habe sie abgeschlossen.« In den Worten schwang leise Panik mit.
»Soll ich es noch einmal überprüfen?«
Charlotte blickte zur Tür. »Nein, nein. Ist schon in Ordnung.«
»Es war eine anstrengende Woche. Wir sind alle mit den Nerven runter.« Sie hatte Charlotte nichts von den Fotos gesagt. »Es ist nicht schlimm, Angst zu haben.«
Charlotte runzelte die Stirn. »Ich habe keine Angst.«
Angie schüttelte den Kopf. »Charlotte, ich habe auch Angst.«
Ihre Chefin sah sie eine ganze Weile schweigend an und seufzte dann. »Wahrscheinlich ist es mir wegen all dem, was passiert ist, wieder eingefallen. Und wenn es mir einfällt, fange ich an, mich in Dinge hineinzusteigern.«
»Da sind wir schon zwei.«
Charlotte zog die Augenbrauen hoch. »Sie scheinen sich nicht sehr viele Sorgen zu machen.«
Angie lächelte schief. »Ich kann mich gut verstellen.«
Charlotte lachte. »Willkommen im Club.«
»Halten Sie durch.«
»Das ist die einzige Möglichkeit.« Charlotte atmete tief ein. »Ich brauche unbedingt Schlaf. Morgen wird ein langer Tag. Gehen Sie auch bald?«
»Gleich.«
»Ich kann warten.«
»Brauchen Sie nicht.« Angie wollte nichts von der Polizeibegleitung sagen, die sie vor ihrem Aufbruch herbestellen sollte. »Es ist schon okay. Mein Auto steht gleich vor der Tür.«
»Und Sie haben noch das Pfefferspray, das ich Ihnen zu Weihnachten geschenkt habe?«
»Ja.«
Nachdem Charlotte die Kanzlei verlassen hatte, waren die Räume so still, dass Angie ihren eigenen Atem hören konnte. Draußen hupte ein Auto. Plötzlich fühlte sie sich so mutterseelenallein, als wäre sie der einzige Mensch auf Erden. Im King’s würde es noch stundenlang jede Menge Trubel und Unterhaltung geben.
Der Gedanke an so viele Menschen auf einmal lockte sie nicht, aber ihre Wünsche zählten jetzt nicht. Dixon war auf Beutezug, und sie musste vernünftig sein. Es war besser, wenn sie ins King’s ging.
Sie rief bei der Nummer an, die Kier ihr gegeben hatte, und wartete, bis ein Streifenwagen vor dem Haus hielt. Sie nahm ihre Handtasche, machte das Licht aus und verließ die Kanzlei durch die Vordertür. Sie gab dem wartenden Polizisten ein Zeichen, schaltete die Alarmanlage ein und stieg in ihr Auto.
Die Fahrt vom Büro bis zum King’s dauerte nur zehn Minuten. Ein paar Meter entfernt fand Angie einen Parkplatz unter einer Straßenlaterne, winkte ihrer Eskorte zum Abschied zu und hastete über den gepflasterten Gehweg zum Eingang des Pubs. Die Hand schon auf der Klinke, warf sie einen Blick zu Kiers Wohnung hinüber. Seine Fenster waren hell erleuchtet. Hinter einem Vorhang konnte sie seine kräftige Silhouette erkennen.
Angies Gefühl von Einsamkeit verstärkte sich. Plötzlich graute ihr vor all den Menschen im Pub. Sie trat ein, drehte sich aber noch einmal um und beobachtete, wie ihre Eskorte wegfuhr.
Die Musik, das Gelächter, das Stimmengewirr zerrten an ihren Nerven. Durch das Fenster blickte sie erneut zu Kiers Wohnung hoch.
In einem plötzlichen Impuls drückte Angie ihre Handtasche fester an sich, verließ den Pub wieder und überquerte die Straße. Sie stieg die Treppe zu Kiers Wohnung hinauf. Auf ihrem Rücken sammelte sich Schweiß. Bei jedem Schritt zog sich ihr Magen mehr zusammen.
Was zum Teufel tat sie da?
Lass den Mann in Ruhe.
Sein Arbeitstag war wahrscheinlich noch länger gewesen als ihrer.
Während die Stimme der Vernunft auf sie einredete, stieg sie immer weiter
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