So still die Toten
sie auf hohen Absätzen die gepflasterten Stufen hinauf. Sie stürmte durch die Eingangstür, passierte den Metalldetektor und steuerte auf das Familiengericht zu. Die Gänge waren heute voller Menschen, Anwälte in dunklen Anzügen und alle Arten von Mandanten, gekleidet in zerrissenen Jeans bis hin zum Sonntagsstaat.
Hoffentlich bot der heutige Tag für sie und Lulu Anlass zur Freude. Es wäre schön, wenn ihre Erfahrung wieder einmal den »kleinen Leuten« zugutekäme.
In der Hoffnung, dass Lulu im Eingangsbereich auf sie wartete, schaute Angie sich suchend um. Auf den ersten Blick war der strubbelige blonde Schopf nicht zu sehen. Ärger stieg in Angie auf, und reflexartig sah sie auf die Armbanduhr. Zwei Minuten nach elf. Vielleicht hatte Lulu sich nur ein bisschen verspätet, genau wie sie.
Angie stand zu sehr unter Strom, um sich einfach hinzusetzen und zu warten. Ihre Finger krampften sich um ihre Aktentasche, und ihr Fuß klopfte rhythmisch auf den Marmorfußboden. Minuten verstrichen, und immer wieder ließ sie den Blick durch den Flur schweifen.
Irgendwann fiel ihr ein, dass sie Lulu gesagt hatte, sie solle ihre Haarfarbe ändern, und sie sah sich gründlicher um. Doch auch auf den zweiten und dritten Blick war von der jungen Frau nichts zu sehen. Angie rief Lulus Handynummer an und war verärgert, als sofort die Mailbox dranging. Sie hinterließ eine kurze Nachricht und klappte ihr Telefon zu.
Um viertel nach elf sah Angie erneut auf die Uhr, danach um halb zwölf. Die Anhörung war für zwölf Uhr angesetzt, und die wichtige Vorbereitungszeit schwand dahin. Bei einem weiteren Anruf auf Lulus Handy erreichte sie wieder nur die Mailbox.
»Verdammt«, murmelte sie.
Sie bahnte sich zwischen den wartenden Menschen hindurch einen Weg zum Aufzug, in der Hoffnung, dass Lulu sie falsch verstanden hatte und vor dem Gerichtssaal im zweiten Stock auf sie wartete. Während sie nach oben fuhr, stieg ihr Blutdruck. »Das hier sollte nicht so kompliziert sein. Es sollte ganz einfach sein.«
Aber Menschen wie Lulu verkomplizierten die einfachsten Dinge. Sie verpassten Termine, nahmen Drogen, obwohl sie wussten, dass ein Gerichtstermin bevorstand, oder sie beschimpften den Richter.
Angie legte eine zitternde Hand an ihre Stirn, um den beginnenden Kopfschmerz zu verscheuchen. Als das Fahrstuhlsignal ertönte und die Tür aufging, trat sie auf einen nicht ganz so überfüllten Flur hinaus und sah sich nach ihrer unzuverlässigen Mandantin um. Immer noch keine Lulu.
Angie setzte sich vor den Saal des Familiengerichts, um die Akte kurz durchzusehen. Sie sollte zumindest mit dem Fall vertraut sein.
Allerdings weckten die Unterlagen kaum Hoffnungen in ihr. Seit der Geburt ihres Sohnes war Lulu nicht nur ein Mal wegen Drogenbesitzes verhaftet worden, wie sie gesagt hatte, sondern drei Mal. Außerdem war sie vor sechs Monaten wegen des Ansprechens von Freiern auf der Straße aufgegriffen worden, und zweimal hatte sie den Besuchstag bei ihrem Sohn versäumt.
Angie rief Eva an, erreichte aber nur die Mailbox. Sie war kurz davor, aufs Band zu schimpfen, dann fiel ihr ein, dass ihre Schwester im College war und nicht vor zwei Uhr Schluss hatte. »Wieso tue ich mir das an?«
Sie seufzte und ließ den Kopf nach hinten gegen die kalte Wand sinken. Selbst wenn Lulu jetzt gleich hier hereinschneite und wie ein Engel aussah, würde es schwer werden, gegen die Fakten anzukommen.
Angie blickte auf die Uhr. Fünf vor zwölf. Vor Zorn zog sich ihr der Magen zusammen, und am liebsten wäre sie einfach aufgestanden und gegangen.
Wenn nicht Eva sie um diesen Gefallen gebeten hätte, hätte sie genau das auch getan. Stattdessen hastete sie die Treppe hinunter, in der Hoffnung, dass Lulu inzwischen eingetroffen war. War sie nicht.
Den Weg zurück nach oben musste Angie im Laufschritt zurücklegen, um pünktlich im Gerichtssaal zu sein. Außer Atem nahm sie ihren Platz neben dem der Antragstellerin ein. Zu ihrer Rechten sah sie eine ältere Frau mit den gleichen markanten Gesichtszügen und ausdrucksvollen Augen wie Lulu. Das musste Lulus Mutter sein. Anstatt nach vorn zu blicken, sah sich die Frau suchend im Raum um. Sie wirkte erwartungsvoll, nicht zornig.
»Der nächste Fall ist Sweet gegen Sweet.« Die Stimme des Gerichtsdieners hallte durch den Saal.
Lulus Mutter erhob sich, und ein junger Mann im dunklen Anzug, der neben ihr saß, tat es ihr gleich.
Der Richter spähte über seine Brillengläser hinweg in Richtung von Lulus
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