So still die Toten
Mutter. Dann wanderte sein Blick suchend durch den Raum. »Wo ist die Antragstellerin?« Er schaute in seine Unterlagen. »Lulu Sweet.«
Angie stand auf.
Der Richter würde sie zusammenstauchen, weil ihre Mandantin nicht anwesend war. Sie war schon früher vor Gericht zusammengestaucht worden und hatte sich eine dicke Haut zugelegt. Aber es ärgerte sie, dass sie nun eine Frau vertrat, von der sie getäuscht worden war.
»Hat Ms Sweet anwaltliche Vertretung?«
Angie erhob sich. »Angie Carlson, Sir. Ich vertrete Ms Sweet.«
Richter Odom zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Das ist nicht Ihre übliche Klientel, Ms Carlson, oder?«
»Nein, Euer Ehren.« Ihre Stimme war klar und fest. »Aber ich bin Ms Sweets Rechtsbeistand.«
Er zuckte die Achseln. »Wo ist nun Ihre Mandantin, Ms Carlson?«
»Sie ist noch nicht im Gerichtsgebäude.«
»Sie erscheint einfach nicht?«
Angie sah den Richter ruhig an. Sie wollte unbedingt vermeiden, auch nur im Mindesten respektlos zu erscheinen. »Bisher ist sie noch nicht hier.«
Der Anwalt der Gegenseite räusperte sich. »Wir alle wissen, dass diese Anhörung von besonderer Bedeutung ist, Euer Ehren. Die Tatsache, dass Ms Sweet zu spät kommt, spricht Bände im Hinblick auf ihr Verantwortungsbewusstsein ihrem Sohn gegenüber. Ich beantrage, dass meiner Mandantin das volle Sorgerecht übertragen wird.«
Angie richtete sich auf. »Euer Ehren, ich beantrage Vertagung, damit ich herausfinden kann, was meiner Mandantin zugestoßen ist. Die Bedeutung dieses Gerichtstermins war ihr klar, und sie wollte unbedingt kommen.«
»Und dennoch ist sie nicht hier«, sagte der Anwalt von Lulus Mutter. »Sie hat eine Drogenlaufbahn und etliche Verhaftungen hinter sich.«
»Es ist nicht erwiesen, dass sie aus einem dieser beiden Gründe noch nicht anwesend ist«, konterte Angie. Sie teilte die Befürchtungen des Anwalts, doch sie durfte trotz ihrer eigenen Vorbehalte nicht vergessen, dass sie zu Lulus Verteidigung hier war. Später, wenn sie das Mädchen in die Finger bekam, würde sie ihr den Kopf waschen, aber jetzt ging es erst einmal um Schadensbegrenzung.
»Wissen Sie, wo Ihre Mandantin ist, Ms Carlson?«, fragte Richter Odom.
»Ich bin mir sicher, sie braucht nur noch ein bisschen Zeit.« Inzwischen hoffte Angie auf ein Wunder.
Komm schon, Lulu, beweg deinen Hintern hierher und sieh zu, dass du dem Richter eine überzeugende Erklärung lieferst
.
Aber keine Lulu erschien, und die Sekunden verstrichen, während Angie den Richter ansah.
»Wo ist Ihre Mandantin, Ms Carlson?« Langsam klang er ungeduldig.
»Ich weiß es nicht.«
»Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?«
»Gestern. Sie wollte unbedingt herkommen.«
Der Richter seufzte. »Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.« Er sah den Anwalt der Gegenseite an. »Sie sind heute mit Ms Sweets Mutter gekommen.«
»Sie sitzt neben mir, Euer Ehren.«
»Und sie ist bereit, das Kind aufzunehmen?«
»Ja, Sir. Ihr liegt sehr daran, dem Kind ein stabiles Zuhause zu geben.«
Angie blickte zu Mrs Sweet hinüber, und diesmal betrachtete sie sie genauer. Die Frau wirkte zerbrechlich, ihre Schultern waren gebeugt. Und sie war älter, als Angie erwartet hatte – etwa Mitte sechzig, was bedeutete, dass Lulu eine späte Schwangerschaft gewesen war. Mrs Sweet war blass, und blaue Adern überzogen ihre knochigen Hände. Sie schien kaum kräftig genug zu sein, um das Baby zu halten, geschweige denn, es großzuziehen. Eva hatte angedeutet, dass sie krank war.
»Mrs Sweet, sind Sie willens, den minderjährigen David aufzunehmen?«, fragte der Richter.
»Ja, Sir.« Ihre Stimme klang so überraschend fest und klar, dass Angie sie bewundernd ansah. Die Frau hatte sich diese Wendung in ihrem Leben vielleicht nicht gewünscht, doch sie tat ihr Bestes, um damit fertigzuwerden.
Wieder wandte sich der Richter an Angie. »Geben Sie mir irgendeine Erklärung, Ms Carlson.«
Wäre es ein Geschäftskunde gewesen, hätte sie sich irgendwie durchlaviert. Sie konnte dutzendweise Tricks aus dem Ärmel schütteln, um eine Anhörung in die Länge zu ziehen. Aber hier ging es nicht um eine Unternehmensfusion oder eine Geschäftsübernahme. Es ging um ein Kind. Und die Mutter hatte ihre Chance verspielt, es zu versorgen. »Ich kann nicht.«
Er nickte. »Ich stelle fest, dass Ms Lulu Sweet nicht vor Gericht erschienen ist, und übertrage Mrs Vivian Sweet das Sorgerecht.« Er schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Nächster Fall.«
Angie
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