So still die Toten
denn?«
»Herrgott, ich führe doch kein Tagebuch.« Sie machte eine abwehrende Geste. »Auf jeden Fall bin ich keine alte Nonne.«
Eva musterte Angie von oben bis unten. »Ja, klar. Hör zu, ich habe keine Zeit, mit dir zu streiten. Ich fahre zu Lulus Wohnung und dann zu ihrer Bar. Ich will wissen, ob irgendjemand sie gesehen hat.«
»Jetzt?«
»Ja.« Eva lächelte. »Mir passiert schon nichts. Mach dir keine Sorgen. Und ich lasse mein Handy an, damit du mich jederzeit anrufen kannst.« Wie zum Beweis zog sie das Telefon aus ihrer Gesäßtasche und schaltete es demonstrativ ein.
Angie war nicht alt. Sie war keine Nonne. Sie ging Risiken ein. Natürlich war sie auch vorsichtig. Alle geistig gesunden Menschen waren das. Verdammt. »Ich komme mit.«
»Was?«
»Ich komme mit. Jetzt. Ich fahre mit dir dorthin, wo Lulu gearbeitet hat.«
»Wenn die Leute in der Bar dich sehen, denken sie, die Polizei oder das FBI ist gekommen. Du bist viel zu förmlich angezogen.«
Angie musterte ihren schwarzen Bleistiftrock, die passende maßgeschneiderte Kostümjacke, die weiße Bluse und die einreihige Perlenkette. »Ich war heute bei Gericht.«
»Du siehst trotzdem streng aus. Verdammt, du trägst einen Dutt, Angie.«
Angie berührte den französischen Knoten, den sie sich heute Morgen gemacht hatte. Sie hatte sich gefreut, dass es ihr gelungen war, ihn gleich beim ersten Versuch mit dem Kamm festzustecken. Ohne zu zögern, zog sie den Kamm heraus, sodass ihr das volle blonde Haar offen auf die Schultern fiel.
Sie schüttelte ihre Mähne und fuhr mit den Fingern hindurch, um sie zu glätten. »Okay, leih mir was zum Anziehen. Ich passe in deine Jeans, und ich weiß, dass du eine Million T-Shirts hast.«
»Du machst wohl Witze.«
»Nein, tue ich nicht. Wo du hingehen kannst, kann ich auch hingehen.«
Eva betrachtete ihre Schwester. »Du wirst etwas Schminke brauchen, um dich aufzupeppen.«
»Prima. Nur zu.«
»Okay. Dann mal los.«
Innerhalb einer halben Stunde hatte Eva mit King gesprochen, und Angie hatte sich umgezogen. Sie trug jetzt ausgeblichene Jeans, die für ihren Geschmack oben herum ein bisschen zu eng saßen, und ein rotes T-Shirt mit dem Aufdruck
Finger weg
. Eva hatte viel zu viel Mascara auf Angies helle Wimpern aufgetragen und Lidschatten und Rouge hinzugefügt.
Angie starrte in den Rückspiegel ihres Wagens, während sie auf eine Lücke im Verkehr wartete. »Ich sehe schrecklich aus.«
»Jetzt könntest du gerade eben durchgehen. Das einzige Problem wird sein, den Stock in deinem Rücken loszuwerden.«
»Ich bin stolz auf meine gute Haltung.« Angie seufzte. »Aber ich verstehe schon. Lockerlassen.«
»Genau. Vergiss die guten Manieren, die dein Dad dir beigebracht hat. Lass dich auf die dunkle Seite ein.«
Angie lachte und fädelte sich in den Verkehr ein. »Na toll.«
»Zuerst fahren wir zu Lulus Wohnung. Dann zur Bar.«
»Ich bin dabei.«
Die Fahrt dauerte zwanzig Minuten. Lulus Wohnung befand sich in einem schäbigen, heruntergekommenen Gebäude, in dem es nach Kohl und Abfällen roch. Das Licht im Treppenhaus war schwach, und durch die papierdünnen Wände hörte man, wie ein Paar stritt und ein Baby schrie.
Eva stellte sich auf die Zehenspitzen und fuhr mit dem Finger über den oberen Rand von Lulus Wohnungstür. Sie fand den Schlüssel, schloss auf, öffnete die Tür und schaltete das Flurlicht ein. »Lulu, bist du hier?«
Es war eine Einzimmerwohnung mit einem Schrankbett und einer Küche mit Mikrowelle, Spüle und einem sehr kleinen Kühlschrank. Es gab einen kleinen, runden Tisch mit vier unterschiedlichen Stühlen, einen winzigen Fernseher mit Zimmerantenne und ein Fenster, vor dem ein weißes Laken hing.
Das Schrankbett war ausgeklappt und frisch bezogen. In einer Ecke des Zimmers stand ein Gitterbett. Es war offensichtlich alles andere als neu, aber sauber und voller Stofftiere.
»Sieht so aus, als hätte sie gestern Abend nach Hause kommen wollen, es aber nicht getan«, meinte Eva.
»Ja.«
Eva ging zum Küchentisch und fand dort ein gerahmtes Foto von Lulu und ihrem Sohn, nur wenige Stunden nach seiner Geburt aufgenommen. Lulus Gesicht war frisch gewaschen, und trotz ihrer offenkundigen Erschöpfung strahlte sie. Behutsam stellte Angie das Bild zurück. »Im Bad ist sie nicht?«
»Nein«, antwortete Eva. »Und keine Post. Nichts Auffälliges. Es sieht nicht so aus, als wäre sie gestern Abend hier gewesen.«
»Was ist mit Drogenspuren?«
»Nichts. Nicht mal ein Tropfen
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