So unerreichbar nah
Talent für die Lösung von verzwickten Fällen. Meine Eltern
haben mir diese Wohnung gekauft und eingerichtet.
Aber dann
begann meine Talfahrt: Innerhalb von vier Monaten starben drei enge Freunde von
mir. Meine Sandkastenfreundin an einem völlig überraschend diagnostizierten
rasch wachsenden Hirntumor und zwei Studienkollegen bei einem Autounfall. Zur
selben Zeit musste ich dann noch den Tod meines Großvaters verkraften, zu dem
ich ein sehr enges Verhältnis gehabt habe. Nach seiner Beerdigung lag ich vier
Wochen mit einer schweren Nierenbeckenentzündung m Krankenhaus und wusste
nicht, ob ich für den Rest meines Lebens Dialyse brauchen würde, da eine Niere
beinahe total versagt hat.
Zuvor hatte
ich niemals Todesangst verspürt, aber plötzlich war sie allgegenwärtig. Nach
der Entlassung aus dem Krankenhaus mied ich zunächst nur bestimmte Situationen,
ging nicht mehr an die Uni, fürchtete mich schließlich vor allem und plötzlich
saß ich nur noch hier in meiner Wohnung fest. Und jetzt fühle ich mich hier
auch nicht mehr sicher, habe Angst, ich könne hier allein sterben.«
Verzweifelt
sah sie mich an.
»Frau Achern,
ganz ehrlich: Glauben Sie tatsächlich, dass Sie mir helfen können? Dass ich wieder
ein einigermaßen normales Leben führen kann, aus dem Haus und wieder an die Uni
gehen kann?«
Ich wusste,
dass es in ihrer momentanen Situation völlig außerhalb ihrer Vorstellungskraft
lag, sie aber mit einer intensiven Verhaltenstherapie geheilt werden konnte. Das
hier war genau die berufliche Herausforderung, nach der ich mich in der Praxis
sehnte. Ich war mir sicher, ihr helfen zu können. Aber es würde einiges an
Aufwand, Zeit und Geld erfordern. Zumindest Letzteres schien in dieser Familie
kein Problem zu sein.
»Alicia, das
liegt nur an Ihnen. Wenn Sie bereit sind, mit mir zu arbeiten und alles zu tun,
was ich Ihnen sage, dann haben Sie eine gute Chance. Wir müssten ein paar
Wochen lang jeden Tag üben. Weniger bringt in Ihrem Fall nichts. Sie müssen
bereit sein, Ihre Ängste durchzustehen, sich ihnen zu stellen. Ich werde Ihnen
einen Vertrag vorlegen, in welchem Sie sich mit Ihrer Unterschrift
verpflichten, mir die vollständige Kontrolle über sämtliche Übungen zu
überlassen.«
Das klang hart,
war aber notwendig. Sie lächelte mich dankbar und vertrauensvoll an, während
ich bewusst distanziert mit ihr umging. Sie hatte noch keine Ahnung, wie sehr
sie mich während der Therapie manchmal hassen würde, weil ich sie dazu zwang, ihre
entsetzliche Panik bewusst durchzustehen. Aber nur auf diese Weise würde sie
mit der Zeit erkennen, dass ihr nichts Schlimmes passierte. Und die Panik würde
sich sozusagen selbst erschöpfen.
Ich erklärte
ihr, wie hoch meine Kosten sein würden, bat sie, die Abrechnung mit ihrer
Krankenkasse zu klären und alles nochmal in Ruhe mit ihrer Familie
durchzusprechen, wartete ab, bis Wolfgang wieder zurückgekehrt war und fuhr
nachhause.
Schon am
Morgen darauf rief sie mich an und erklärte, sie und ihre Familie seien zu
allem bereit, was zu ihrer Heilung notwendig war und wir einigten uns darauf,
Anfang kommender Woche mit der täglichen Therapie zu beginnen. Da ich meine
anderen Patienten nicht einfach hängen lassen konnte, bedeutete dies einiges an
Zusatzarbeit für mich. Ich würde tagsüber, bis etwa drei Uhr nachmittags, in
der Praxis behandeln und danach jeweils zu Alicia fahren.
Am
Freitagabend war ich mit Paul auf eine Vernissage, die von einem seiner Kunden
veranstaltet wurde, eingeladen. Noch in Unterwäsche war ich gerade dabei, mich
zu schminken, als ich schon Pauls Schlüssel im Schloss hörte.
Munter rief
ich aus dem Badezimmer:
»Schatz, du
bist aber heute früh dran. Ich brauche noch ein paar Minuten.«
Statt einer
Antwort hörte ich ihn husten und gleich darauf nieste er so heftig, dass die
Wände wackelten. Ich streckte den Kopf zum Gang hinaus, während er sich
ermattet auf meinen Stuhl neben dem Telefon im Windfang sinken ließ. Er hob den
Kopf und sah mich Mitleid heischend an, während er mit heiserer Stimme flüsterte:
»Tessa, wir
können heute Abend nirgendwo hin gehen. Mich hat die Grippe erwischt, ich muss
mich übers Wochenende auskurieren.«
Erneut gab er
diesen Urschrei, den er während des Niesens ausstieß, von sich.
Rasch trat
ich auf ihn zu und fasste an seine Stirn und seinen Nacken, die sich völlig
normal temperiert anfühlten. Fieber hatte er keines. "Grippe" schien
mir auch ein zu hartes Wort für seinen
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