So unerreichbar nah
Zustand zu sein.
Er hatte sich
schlicht und einfach eine normale Erkältung eingefangen. Aber das Wort "normal"
in Zusammenhang mit einer von Pauls gesundheitlichen Beschwerden durfte ich
unter keinen Umständen verwenden. Das hatten mich die vergangenen drei Jahre
hinreichend gelehrt. Wenn Paul eines seiner gottseidank seltenen Wehwehchen
hatte, dann war dieses grundsätzlich dramatisch, ja geradezu lebensgefährlich.
Vor zwei
Jahren hatte ihn bei einem romantischen Sonntagsfrühstück auf meiner kleinen
Terrasse eine Biene in die Hand gestochen, als er nach der Marmelade griff. Obwohl
die Einstichstelle nur leicht gerötet war und auch im späteren Tagesverlauf
keinerlei allergische Reaktion aufwies, ging Paul völlig auf Nummer Sicher. Er
hängte seine Hand stundenlang in eine Schüssel mit kaltem Wasser, welches ich
alle Viertelstunde wechseln musste und war außerstande, an diesem herrlichen
Sommertag irgendetwas mit mir zu unternehmen, da die Möglichkeit bestand, der
Stich könne sich entzünden und zu einer Blutvergiftung führen. Gleich am
darauffolgenden Tag hatte er sicherheitshalber noch seinen Hausarzt aufgesucht.
Dass er heute
trotz seines gefühlten miserablen Zustandes den vergleichsweise weiten Weg von
der Kanzlei zum mir auf sich genommen hatte (er wohnte gleich um die Ecke
seiner Arbeitsstelle), entsprang praktischen Überlegungen. Allein in seiner
Wohnung hätte er keine aufopfernde Krankenpflegerin gehabt, die ihm im Kampf um
sein Leben beigestanden wäre. Den Job erhielt ich für dieses Wochenende. Ich
erkannte es daran, dass er trotz meiner spärlichen Bekleidung, die lediglich
aus einem blauen Seiden-Unterwäscheset von Victoria´s Secret bestand, bei
meinem Fieberfühltest völlig apathisch den Kopf hängen ließ und seine Hände
kraftlos bei sich behielt.
Innerlich
seufzte ich. Paul war ein schwieriger anspruchsvoller Patient, der ständige
Zuwendung in Form von frisch zubereiteten Kräutertees, kalten Umschlägen,
Inhalationsdampfbädern und ausgesuchten Essenshäppchen benötigte, um wieder zu
Kräften zu kommen.
Es wurde -
für mich - ein anstrengendes Wochenende nach einer anstrengenden Woche. Der
einzig positive Aspekt bestand darin, dass ich, als Lisa am Samstag anrief, um
zu fragen, ob wir mit ihr und Lucas abends tanzen gehen würden, guten Gewissens
ablehnen konnte. Mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung legte ich
auf. Meine verirrte Gefühlswelt hatte sich wieder einigermaßen beruhigt, da ich
das Objekt meiner Begierde seit sieben Tagen nicht mehr live gesehen hatte. Und
ich gedachte, mir diesen mühsam erworbenen Seelenfrieden solange wie möglich zu
erhalten. Wenn es ging, bis zu dem Zeitpunkt, an welchem Lisa und ich wieder
einen Chips-Schokoladen-Zeichentrick-DVD-Tag einlegen würden.
Danach - ich
würde eine angemessene Zeit verstreichen lassen - könnte ich ja ganz
unverbindlich mal allein im "Chez amis" aufkreuzen und nachsehen, ob
der Chef zufällig im Haus war…
Wie tief
kannst du eigentlich noch sinken? Jetzt spekulierst du auf Lisas Liebeskummer
und stehst in den Startlöchern, um ihren zukünftigen Exfreund zu umgarnen?
Glücklicherweise
rief Paul mit schwacher Stimme aus dem Schlafzimmer nach mir, zweifellos, um
sein Mittagessen zu ordern und ich hatte keine Muße mehr, mich unmoralischen Tagträumereien
hinzugeben. Am Sonntagabend fühlte sich mein Liebster wieder hinreichend genug
bei Kräften, um darauf zu bestehen, dass ich ihm in dieser Nacht im Bett Gesellschaft
leisten solle und am Montag verließ er mich in aller Frühe auskuriert und
bestens gelaunt, um sich in die Arbeit zu stürzen.
Als ich mein
Büro betrat, kribbelte es bereits in meiner Nase und ein dumpfer Kopfschmerz
hämmerte in meinen Schläfen. Paul hatte mir seine Erkältung vererbt.
SELF CONTROL
»Tief atmen,
wie wir es in den letzten Tagen geübt haben, Alicia. Es kann Ihnen nichts
passieren, die Gefahr ist nur in Ihrem Kopf.«
Alicia stand
zitternd wie ein Häufchen Elend direkt vor der Türschwelle in ihrer Wohnung und
starrte verzweifelt durch die weit offenstehende Tür ins Treppenhaus, wo ich neben
der Aufzugstür wartete. Ich sah, wie sie mehrfach zu einem winzigen Schritt
ansetzte und dann zurückzuckte. Verzweifelt hob sie den Kopf und sah mich
mitleidheischend an.
»Ich schaff
das einfach nicht, Frau Achern. Ich habe das Gefühl, zu sterben, wenn ich da
raus gehe. Ich bekomme keine Luft. Mir ist schlecht und schwindlig. Ich muss
mich hinsetzen.«
Sie
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