So unerreichbar nah
Bergstation beobachtete ich die Leute aus der Gondel
vor mir. Sie warteten ab, bis ihre Skier wieder Bodenkontakt hatten, standen
auf und fuhren dann auf dem abschüssigen Stück am Ende des Lifts seitlich weg. Ich
sah mich schon den Ausstieg verpassen, entweder hinfallen oder noch schlimmer,
wieder nach unten fahren. Alle Entgegenkommenden würden mich gnadenlos
auslachen! Ich verkrampfte mich, da spürte ich, wie Lucas seinen Arm unbemerkt
unter meinen schob und beruhigend meine Hand drückte. Genauso leise wie unten
gab er mir das Kommando, wann ich aufstehen musste und zog mich sanft mit sich
von der abfahrenden Gondel weg in Richtung Piste. Zu viert standen wir vor der
Bergstation und ich atmete tief durch, weil ich die Liftfahrt schon mal ohne
größere Schwierigkeiten hinter mich gebracht hatte. Lisa und Paul verloren
keine Zeit und steuerten bereits den nächsten Sessellift etwas weiter oben an.
Ich betrachtete die furchterregend aussehende Steilpiste, die direkt neben
diesem Lift nach unten führte. Erneut trat mir der Angstschweiß auf die Stirn. Noch
bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich Lucas hinter mir:
»Hey Leute.
Ich bin schon lange nicht mehr Ski gefahren und völlig untrainiert. Ich werde
den Teufel tun und gleich am Anfang eine schwarze Piste fahren. Ihr könnt gerne
da hoch. Aber ich fahre fürs Erste die einfacheren Abfahrten.« Er wandte sich
zu mir um. »Tessa, wie sieht´s bei dir aus? Willst du mit Lisa und Paul fahren
oder leistest du mir Gesellschaft?«
Ich hätte ihn
für seine Ritterlichkeit auf der Stelle küssen wollen. Mein Herz machte vor
Begeisterung ein paar unmotivierte Extraschläge. Engelchen tanzte auf seiner
Wolke Zumba. Jetzt würde ich doch mit ihm zusammen Skifahren! Ohne Lisa und
Paul!
Lässig
erwiderte ich:
»Ich fahre
nicht so gut. Bin auch untrainiert. Ich bleibe hier bei dir.«
Pauls Gesicht
hatte sich bei meinen Worten verfinstert. Aber sogar das ließ mich kalt. Er
hätte mir ja auch Gesellschaft leisten können, war aber sichtlich scharf darauf,
sich den Herausforderungen der schweren Abfahrt zu stellen. Lisa entschärfte
die Situation, indem sie ihn einfach mit sich zog.
»Komm und
lass die beiden die Seniorenhügel runter zittern. Wir beide werden jetzt die
richtigen Pisten unsicher machen.«
Sie schob den
Ärmel ihres Skianzuges hoch und blickte auf ihre Armbanduhr.
»In zwei
Stunden treffen wir uns wieder hier am Sessellift und kehren dann irgendwo zum
Mittagessen ein.«
Kaum waren
Lisa und Paul in Richtung Mörderabfahrt verschwunden, grinsten Lucas und ich
uns beide fröhlich an.
»Sollen wir
für den Anfang diese gefährliche Piste da drüben in Angriff nehmen?«
Er deutete
auf eine Art Idiotenhügel linker Hand von uns, ganz ähnlich dem, den ich unten
so neidisch betrachtet hatte. Begeistert nickte ich. Kurz darauf ließen wir uns
von einem Schlepplift nach oben ziehen. Ich genoss es aus vollem Herzen, Lucas
so dicht neben mir zu spüren. Meine Angst war völlig verschwunden. Als wir uns
an die Abfahrt machten, packte mich angesichts Lucas schnittiger Fahrweise das
schlechte Gewissen. Er fuhr langsam vor mir her, machte aber perfekte Schwünge.
Zwischen seine parallel ausgerichteten Skier passte kein Blatt Papier, so eng
hielt er sie beieinander. Ich fuhr, mit wesentlich breiterer Fahrspur, hinter
ihm her. Auf halber Höhe bremste er am Pistenrand ab und beobachtete mich, wie
ich zu ihm aufschloss.
»So schlecht
fährst du gar nicht, Tessa. Dir fehlt nur die Übung. Dann kommt auch das
Zutrauen ins eigene Können.«
Kleinlaut
entgegnete ich:
»Verdammt
Lucas, das ist mir total peinlich. Du fährst sagenhaft gut Ski, könntest locker
mit den beiden anderen mithalten und spielst hier den Skilehrer für mich armes
Opfer.Lass mich irgendwo einkehren, ich warte auf euch und du kannst den Tag
zusammen mit Lisa genießen.«
Er schüttelte
den Kopf und sah mich strafend an.
»Du hast es
immer noch nicht kapiert, oder? Du bist kein Opfer. Du hattest die Schneid,
trotz deiner Angst mit hierher zu kommen. Und nochmals zum Mitschreiben: Es
macht mir überhaupt nichts aus, die leichteren Abfahrten zu nehmen. Ich
trainiere weder fürs Skirennen noch für den Riesenslalom. Ich genieße diesen
Tag - die frische Luft, das schöne Wetter und nicht zuletzt deine
Gesellschaft. Gerade du mit deiner Ausbildung solltest wissen, dass es nichts
Befriedigenderes gibt, als jemand anderem helfen zu können. Lass mich doch den
Samariter spielen. Du sorgst dafür,
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