So unselig schön
suche sie plötzlich Distanz.
Ja, ich bin noch immer enttäuscht. Auch nach acht Monaten noch. Wütend bin ich eigentlich nur auf mich selbst, dachte Dühnfort. »Von wem?«
»Von seinem Stiefvater. Charles Baudelaires Vater starb, als der Junge noch sehr klein war. Zunächst war es ein Schock, doch es folgte die Zeit, die er später als die Zeit im Paradies bezeichnete. Ein Jahr, in dem die Aufmerksamkeit seiner wunderschönen Mutter ganz ihm galt, eine Zeit, in der er sie für sich alleine hatte und die ihn wohl für das Leben prägte. Alle Frauen verglich er mit ihr, und keine konnte ihr das Wasser reichen. Eine dauerhafte Beziehung gab es in seinem Leben nie. Die Sehnsucht danach schon.« Ihr Blick traf seinen.
Er konnte ihm nicht ausweichen. Deshalb hatte sie nicht angerufen und keine Mail geschickt, war persönlich in seinem Büro erschienen. »Was geschah nach dieser Zeit im Paradies?«
Ihre Schultern strafften sich kaum merklich. Ihr Blick löste sich von seinem. Kurz betrachtete sie ihre Hände, strich über die Tischkante. »Seine Mutter verheiratete sich wieder. Charles wurde vom Thron gestoßen, hatte plötzlich einen Rivalen. Aus dem netten Jungen wurde ein Problemkind, das rebellierte, bis sein Stiefvater ihn in ein Internat steckte.«
Das klingt wie Teile des Lebenslaufs von Jobst Wernegg, dachte Dühnfort.
»An dem Tag, als seine Mutter sich wieder verheiratete, hat der Junge den Schlüssel zum Schlafzimmer versteckt. Das finde ich sehr bemerkenswert. Charles war sieben oder acht Jahre alt, und offensichtlich war ihm die Bedeutung eines ehelichen Schlafzimmers schon klar. Beim Lesen dieser Biographie hatte ich an einigen Stellen die Vermutung, dass in dieser Liebe zur Mutter eine erotische Komponente mitschwang, dass er sich auch körperlich von dieser wunderschönen Frau angezogen fühlte. Aber vielleicht habe ich da zu viel Phantasie, oder die Wortwahl des Autors ist nicht ganz glücklich.«
»Wie ist Baudelaire mit der Trennung von seiner Mutter umgegangen? Hat er sie ihr angelastet oder dem Stiefvater?«
»Das geht aus der Biographie nicht hervor. Ich denke auch nicht, dass er sich die Schuldfrage gestellt hat. Er hat darunter gelitten, die Trennung war prägend für sein Leben und sein Werk.«
»Das Gedicht über die Märtyrerin … meint er damit seine Mutter, hat er so einen verborgenen Hass verarbeitet?«
Agnes zog die Schultern ein wenig hoch. »Es gibt ein Gemälde von Delacroix mit einer ähnlichen Darstellung. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass Baudelaire dieses Bild beschreibt.«
Dühnfort dachte an die Puppe in der Puppe, dachte an den Mann, der die wahren Motive seiner Taten vor sich verbarg, der seine Wut, seinen Hass, seinen Schmerz, seine Ohnmacht, oder was auch immer ihn zu diesen Taten trieb, in einem Bild versteckte, in dem sich ein Gedicht verbarg.
Er dachte an die Ähnlichkeit in Baudelaires und Werneggs Lebensläufen. Aber Wernegg konnte nicht ihr Mann sein. Schließlich hatte er vor sechs Jahren gar nicht in Deutschland gelebt.
»Entschuldige.« Er schob den Stuhl zurück.
»Du musst schon los?«
»Die Arbeit … Danke für deine Hilfe.« Unter das noch volle Glas schob er einen Geldschein.
Agnes beobachtete ihn, das Kinn in die Hand gestützt, und sah ihm nach, als er ging.
***
Als Dühnfort ins Präsidium zurückkam, traten Gina und Alois gerade aus dem Vernehmungsraum und gingen Richtung Treppenhaus. Sie wirkte müde und frustriert. Er trug sein Leinensakko in der Hand und sah verärgert aus. »Und?«, fragte Dühnfort.
»Er war es natürlich nicht. Jemand legt falsche Spuren, um ihn zu belasten, er hat aber keinen Peil, wer ihm das antun könnte, denn alle lieben ihn.« Gina begann in einer Tasche ihrer Cargohose zu graben.
»Sein Anwalt ist da.« Mit dem Kinn wies Alois hinter sich, zum Vernehmungsraum. »Und der hatte natürlich nichts Besseres zu tun, als Fuhrmann zu raten, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen.«
Aus den Tiefen einer Tasche zog Gina einen Müsliriegel. »Mir ist schlecht vor Hunger, und ich bin saumüde. Ich gehe jetzt nach Hause. Fuhrmann läuft uns nicht weg, die Klinik nehmen wir uns morgen vor.«
Hoppla, dachte Dühnfort. Noch leitete er die Ermittlung. »Du hast einen Durchsuchungsbeschluss für die Klinik beantragt, in der Fuhrmann seine Belegbetten hat?« Weshalb sprach sie das nicht mit ihm ab?
»Das ist ein riesiges altes Gebäude, mit einem Labyrinth an Kellern.« Die Folie verschwand in
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