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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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ihm die Fakten um die Ohren hauen. Wie sie sich dabei gefühlt hatte, würde er bestimmt nicht erfahren.
    »Ist schon okay. Meine Mutter ist gestorben, als ich sechs war, und meine Oma, bei der ich dann gelebt habe, ist auf einem vereisten Gehsteig ausgerutscht, als ich zwölf war. Hirnblutung. Vater unbekannt. Wohin also mit mir? Zuerst in eine Pflegefamilie und dann ins St.-Michael-Haus. Deshalb also.«
    Sie sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte. Sollte sie sich revanchieren und nach diesem Hörgerät fragen? Aug um Aug, Zahn um Zahn? Vicki versuchte ihren Zorn herunterzuschlucken. Besser, sie verärgerte ihn nicht.
    »Es tut mir leid, dass ich danach gefragt habe. Ich wollte Sie nicht verärgern, und nun habe ich es doch geschafft.«
    »Ist schon okay.«
    Er wandte sich ab und ging Richtung Tür. Audienz beendet. »Ich melde mich bald bei Ihnen. Versprochen.«
    Ihre Wut verrauchte, während sie die vier Etagen durch das Treppenhaus nach unten ging. Vermutlich war er einfach nur gedankenlos gewesen. Wie so viele Menschen einfach nur gedankenlos waren, sich nicht überlegten, welche Folgen ihre Neugier oder ihr Verhalten haben konnten. Wie wäre er damit umgegangen, wenn sie ihm die Knochen hingeschmissen hätte?
    Im Heim war es eigentlich okay gewesen. Aber davor, in der Pflegefamilie … bei diesen Gutmenschen. Frau Verwaltungsfachwirtin und der Herr Diplomingenieur, die sonntags in den Gottesdienst gingen und vorher ihre Sünden beichteten. Sie das Wegsehen und er das Herumfingern, das er angefangen hatte, kaum dass Vicki ein wenig Busen gewachsen war. Dieser Kerl mit seinem staubigen Geruch und seinen Grabbelfingern, die sie ständig irgendwo berührten … Scheiße! Wieso kocht das jetzt wieder hoch! Vicki schlug mit der flachen Hand gegen die Wand des Treppenhauses.
    Schluss!
    Aus!
    Vorbei!
    Sie atmete mehrmals durch und ging weiter.
    Was war heute gut gewesen?
    Dass er die Therapie bezahlen wollte natürlich. Sie hatte es geschafft! Yeah! Und das Bild. Dieses seltsame Bild mit dem Leuchter und dem Buch. Es hatte ihr etwas gezeigt, das sie nicht kannte.
    Mitten auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen, um das lose Ende dieses Gedankenfadens zu fassen zu bekommen. Eine Parallelwelt, dachte sie. Irgendwo gab es eine Welt der Kunst und der Schönheit; Dinge, die wie Geschöpfe zu einem sprachen. Wie dieses Bild. Vielleicht war es mit klassischer Musik ähnlich? Wie sah es in der Oper aus, wie hörte sich so was an? War das vielleicht gar kein grauenhaftes Gejaule, wie sie glaubte? Waren die Bilder, die sich hinter den Museumsmauern verbargen, keine verstaubten altmodischen Schinken, sondern solche wie das Bild in Werneggs Büro?
    Sie hörte, wie jemand die Eingangstür öffnete. Kurz schwappte der Straßenlärm ins Haus und verebbte dann wieder, als die Tür ins Schloss fiel.
    Eine Parallelwelt. Man musste nur den Zugang finden.
    Die Oper lag auf der anderen Straßenseite. Niemand konnte ihr verbieten, jetzt dort reinzugehen und sich umzusehen. Und bei Beck gab es eine Abteilung mit Klassik- CD s. Vielleicht fand sie da ja etwas für Anfänger? Genau. Das würde sie jetzt machen.
    Diese Überlegungen lenkten sie von ihrem Zorn ab und weckten eine gespannte Erwartung in ihr. So mussten sich Humboldt und Amundsen gefühlt haben, als sie aufbrachen, andere Kontinente zu erforschen.
    Vicki stieg die letzten Stufen hinab und erreichte den mit Marmor und dickem Teppich belegten Vorplatz. Die Türen des Lifts schlossen sich. Jemand fuhr nach oben.
    ***
    Einen Moment hatte Dühnfort überlegt, die Treppe zu nehmen und so etwas für seine Kondition zu tun, aber die Bequemlichkeit hatte gesiegt. Der Lift trug ihn nach oben, und eine Minute später betrat er das Büro der Susanne-Karg-Stiftung.
    Hinter einem Empfangstresen saß eine junge Frau, die ihm ein Lächeln schenkte. »Guten Tag.«
    Er stellte sich vor und sagte, dass er Jobst Wernegg sprechen wollte.
    »Das sollte kein Problem sein. Kommen Sie.«
    Er folgte ihr über den Vorplatz zu einem Büro, dessen Tür offen stand. Ein Mann nahm gerade einige Blätter aus dem Drucker und sah auf, als sie eintraten.
    »Besuch für Sie.« Die Empfangsdame stellte Dühnfort vor und verließ dann den Raum. Wernegg legte die Ausdrucke auf den Tisch, reichte Dühnfort die Hand und wies auf eine Sitzgruppe. »Ich vermute, es geht um den Samstagabend. Was möchten Sie noch wissen?«
    Wernegg nahm Dühnfort gegenüber Platz. Ein schwacher Duft nach Rasierwasser ging von ihm aus. Seine

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