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So wahr uns Gott helfe

So wahr uns Gott helfe

Titel: So wahr uns Gott helfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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Gesten an anderen zu beobachten, zu identifizieren und zu deuten. Ihre Studien führten sie an so unterschiedliche Orte wie die Pokerzimmer im Süden des County, wo sie das Mienenspiel von Menschen zu lesen lernte, die nichts von sich preiszugeben versuchten, aber auch in die Gerichtssäle des CCB, wo es immer jede Menge Gesichter und verräterische Hinweise zu deuten gab.
    Ich hatte sie bei einem Prozess, in dem ich einen der mehrfachen Vergewaltigung angeklagten Mann verteidigte, drei Tage hintereinander unter den Zuschauern gesehen, und irgendwann sprach ich sie an. Eigentlich hatte ich erwartet, sie sei ein bislang unbekanntes Opfer des Angeklagten, aber zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass sie nur ins Gericht gekommen war, um das Mienenspiel anderer Menschen zu studieren. Ich lud sie zum Mittagessen ein und ließ mir ihre Telefonnummer geben. Und als ich das nächste Mal die Geschworenen für einen Prozess auswählen musste, engagierte ich sie als Assistentin. Sie lag mit ihren Beobachtungen genau auf dem Punkt, und seitdem greife ich immer wieder auf ihre Dienste zurück.
    »So«, sagte ich, als ich eine schwarze Serviette auf meinem Schoß ausbreitete. »Wie machen sich meine Geschworenen?«
    Eigentlich war die Frage an Julie gerichtet, aber Patrick, meldete sich zu Wort.
    »Ich glaube, sie wollen es diesem Elliot mal so richtig zeigen«, bemerkte er. »Sie halten ihn für einen reichen, arroganten Sack, der meint, sich alles erlauben zu können.«
    Ich nickte. Mit dieser Einschätzung lag er wahrscheinlich gar nicht so daneben.
    »Tja, Patrick, besten Dank für die aufmunternden Worte. Ich werde Walter anweisen, ab sofort nicht mehr so reich und arrogant zu sein.«
    Patrick senkte verlegen den Blick.
    »War nur so ein Eindruck, mehr nicht.«
    »Nein, nein, Patrick, völlig in Ordnung. Mir ist jede Meinung wichtig und willkommen. Aber es gibt gewisse Dinge, die man nicht ändern kann. Mein Mandant ist so reich, wie sich das eigentlich keiner von uns vorstellen kann, und damit geht ganz automatisch ein bestimmtes Image einher. Keine sonderlich einnehmende Ausstrahlung, an der ich aber leider nichts ändern kann. Julie, was hältst du bisher von den Geschworenen?«
    Bevor sie darauf antworten konnte, kam der Kellner und nahm unsere Getränkebestellungen entgegen. Ich entschied mich für ein Wasser mit Limette, während die anderen Eistee bestellten. Nur Lorna orderte ein Glas Chardonnay, was ich mit einem vielsagenden Blick quittierte, der sie umgehend protestieren ließ.
    »Was hast du eigentlich? Ich arbeite heute nicht. Ich bin nur Zuschauerin. Außerdem gibt es was zu feiern. Du ziehst vor Gericht, und wir sind wieder im Geschäft.«
    Ich nickte widerstrebend.
    »Apropos Geschäft, ich muss dich bitten, auf die Bank zu gehen.«
    Ich zog einen Umschlag aus meiner Jackentasche und reichte ihn ihr über den Tisch. Sie lächelte, denn sie wusste, was er enthielt. Einen Scheck von Elliot über hundertfünfzigtausend Dollar, der Rest meines vereinbarten Honorars.
    Lorna steckte den Umschlag ein, und ich wandte mich wieder Julie zu.
    »Und wie siehst du die Sache?«
    »Ich finde die Geschworenen gut«, erwiderte sie. »Alles in allem viele offene Gesichter. Sie sind bereit, sich deine Sicht der Dinge anzuhören. Zumindest im Moment noch. Wir wissen alle, dass sie dazu neigen, der Anklage zu glauben, aber sie haben bisher noch bei keinem Punkt die Tür zugeschlagen.«
    »Siehst du irgendwelche Veränderungen gegenüber dem, worüber wir am Freitag gesprochen haben? Soll ich mich weiter auf Nummer drei konzentrieren?«
    »Wer ist Nummer drei?«, fragte Lorna, bevor Julie antworten konnte.
    »Golantz’ Ausrutscher. Drei ist Anwalt, und die Anklage hätte auf keinen Fall zulassen dürfen, dass er auf die Geschworenenbank kommt.«
    »Ich glaube nach wie vor, dass es gut ist, sich auf ihn zu konzentrieren«, befand Julie. »Aber es gibt auch andere. Elf und zwölf gefallen mir ebenfalls sehr gut. Beide schon in Rente, und sie sitzen direkt nebeneinander. Wenn mich nicht alles täuscht, werden sie sich zusammentun und als Team auftreten, wenn sie über das Urteil beraten. Gewinnst du einen von ihnen für dich, hast du beide auf deiner Seite.«
    Ich mochte ihren englischen Akzent. Er hatte überhaupt nichts Hochgestochenes, sondern etwas sehr Bodenständiges und Realitätsnahes, was ihren Bemerkungen zusätzliches Gewicht verlieh. Als Schauspielerin war sie bisher nicht sehr erfolgreich gewesen. Sie hatte mir einmal

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