So wahr uns Gott helfe
diesem Fall trifft das nicht zu. Die Beweise – und ich spreche hier von den von der Anklage vorgelegten Beweisen und Zeugenaussagen – werden zeigen, dass sich die Ermittler von Anfang an nur auf einen einzigen Verdächtigen konzentriert haben, auf Walter Elliot. Weiterhin werden die Beweise zeigen, dass die Ermittlungsbehörden, sobald sich ihr ganzes Interesse auf Walter Elliot konzentriert hatte, keinerlei anderen Anhaltspunkten mehr nachgegangen sind. Falls es überhaupt irgendwelche Ermittlungen gegeben hat, die in andere Richtungen zielten, wurden sie umgehend eingestellt. Sie hatten einen Verdächtigen und, wie sie glaubten, auch ein Motiv. Und deshalb haben sie nicht mehr nach links und nach rechts geschaut.«
An diesem Punkt verließ ich zum ersten Mal meinen bisherigen Platz. Ich trat vor dem Geschworenen Nummer eins ans Geländer und schritt, mit der Hand über das Holz streifend, langsam an der Geschworenenbank entlang.
»Meine Damen und Herren, in diesem Verfahren haben wir es mit einem typischen Fall von Tunnelblick zu tun. Das ganze Augenmerk richtet sich auf einen einzigen Verdächtigen, und alles andere wird komplett vernachlässigt. Und ich versichere Ihnen, wenn Sie aus dem Tunnel der Anklage kommen, werden Sie einander ansehen und wegen des hellen Lichts blinzeln. Und Sie werden sich fragen, wie in aller Welt es überhaupt zu diesem Prozess kommen konnte. Ich danke Ihnen.«
Meine Hand glitt vom Geländer, und ich kehrte an meinen Platz zurück. Noch bevor ich mich setzte, verkündete der Richter die Fortsetzung der Sitzung nach der Mittagspause.
SIEBENUNDDREISSIG
W ieder einmal verzichtete mein Mandant auf ein Mittagessen mit mir, um ins Studio fahren und dort in der Chefetage seinen üblichen Auftritt zu absolvieren. Langsam gewann ich den Eindruck, dass er den Prozess als lästige Unannehmlichkeit in seinem Tagesablauf betrachtete. Entweder hatte er mehr Zutrauen in die Erfolgsaussichten der Verteidigung als ich, oder der Prozess spielte für ihn nur eine zweitrangige Rolle.
Was auch immer seine Gründe sein mochten, ich musste mich mit meinem kleinen Gefolge aus der ersten Reihe begnügen. Patrick fuhr uns ins Traxx in der Union Station, das weit genug vom Gerichtsgebäude entfernt war, um nicht im selben Lokal wie einer der Geschworenen zu landen. Ich ließ Patrick den Lincoln beim Parkservice abgeben und mit uns kommen, damit er sich als Teil des Teams fühlte.
Man wies uns einen ruhigen Ecktisch an einem Fenster an, das sich auf den prachtvollen Wartesaal des Bahnhofs öffnete. Um die Sitzordnung hatte sich Lorna gekümmert, und ich kam neben Julie Favreau zu sitzen. Seit Lorna sich mit Cisco zusammengetan hatte, glaubte sie offenbar, mich unbedingt verkuppeln zu müssen. Dass diese Bemühungen von einer meiner Exfrauen unternommen wurden – und noch dazu von einer Exfrau, an der mir in vieler Hinsicht noch etwas lag –, war mir eindeutig peinlich. Ich fand es fast ein wenig plump, als mir Lorna ganz unverhohlen den Stuhl neben meiner Geschworenenberaterin zuteilte. Ich steckte mitten in meinem ersten Verhandlungstag und hatte weiß Gott wichtigere Dinge im Kopf, als irgendwelche zarten Bande zu knüpfen. Außerdem war ich nicht beziehungsfähig. Meine Abhängigkeit hatte mich in eine emotionale Distanz zu Menschen und Dingen versetzt, die ich erst allmählich zu überbrücken begann. Dabei konzentrierte ich mich vor allem darauf, die Beziehung zu meiner Tochter wieder aufzubauen. Sobald ich das halbwegs geschafft hatte, konnte ich mich vielleicht auf die Suche nach einer Frau machen, mit der ich etwas Zeit verbringen wollte.
Liebesdinge mal beiseite, war Julie Favreau jemand, mit dem sich hervorragend zusammenarbeiten ließ. Sie war eine zierliche, attraktive Frau mit feinen Gesichtszügen und pechschwarzem Haar, das ihr Gesicht in dichten Locken umrahmte. Die jugendlichen Sommersprossen auf ihrer Nase ließen sie jünger aussehen. Ich wusste, dass sie dreiunddreißig war, denn sie hatte mir einmal ihre Lebensgeschichte erzählt. Sie war aus London nach Los Angeles gekommen, um Filmschauspielerin zu werden, und hatte bei einem Lehrer studiert, der die Ansicht vertrat, die inneren Prozesse einer Figur äußerten sich durch verräterische Mimik, durch Ticks und unwillkürliche Körperbewegungen. Aufgabe eines Schauspielers sei es, diese verräterischen Signale an die Oberfläche zu bringen, ohne dabei zu offensichtlich vorzugehen. Ihre Hausaufgaben bestanden darin, diese minimalen
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