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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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ist … sollst du das sein?«
    Jujú schien enttäuscht über diese Reaktion.
    »Natürlich bin ich das. Ist es nicht grandios? Es ist von Laura.« Insgeheim war auch Jujú nicht sehr begeistert gewesen, als ihre Tochter ihr erklärt hatte, dass sie kein Aquarell malen wollte. Doch je länger sie schließlich das Werk aus Wachskreide betrachtet hatte, desto besser gefiel es ihr. Laura war wirklich begabt. Sie hatte die Charakteristika ihres Gesichts mit ein paar Strichen eingefangen, hatte bei aller expressionistischen Farbenfreude – Jujús Lippen waren grün, ihr Haar rot – ihren Typ genau getroffen.
    »Das linke Auge hängt irgendwie schief«, bemerkte Fernando.
    »Ach, du bist ein Kunstbanause! Das soll so sein. Wenn es mir um größtmögliche Detailtreue gegangen wäre, hätte ich ja ein Foto machen lassen können, oder?«
    »Hm.« Fernando nahm die Filzpappe in die Hand und besah sich das Œuvre von nahem. Dann hielt er es so weit von sich fort, wie es ging. Aus größerer Entfernung konnte man tatsächlich Jujú in dieser missgebildeten Visage erkennen. Immerhin. Aber dass so etwas als Kunst galt? Wahrscheinlich stimmte es: Auch Elisabete behauptete immer, ihm gehe jeder Kunstverstand ab.
    »Vielen Dank, mein Herz. Es ist wunderschön.« Er legte das Blatt beiseite und streckte den Arm nach Jujú aus. »Aber lange nicht so schön wie das Modell in Fleisch und Blut. Komm her.« Er zog sie auf seinen Schoß, doch sie entwand sich seiner Umarmung.
    »Warte«, flüsterte sie, »bis wir allein sind.«
    Sekunden später trat Luiza ein und servierte den Kaffee.
    »Danke, Luiza. Ich denke, ich brauche dich heute nicht mehr. Du kannst nach Hause gehen.«
    Luiza machte einen Knicks, bedankte sich überschwenglich und ging, in Gedanken mit dem beschäftigt, was ihre Dienstherrin in Kürze tun würde. Alten-Unzucht, Allmächtiger! Gott sei Dank musste sie nicht hierbleiben, um womöglich auch noch zur Zeugin dieser Schweinerei zu werden.
    Als sie hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel, setzte Jujú sich auf Fernandos Schoß. Sie streichelte seine Wange, die nach einem langen Tag im Ministerium stachelig war. Sein Barthaar war durchsetzt von weißen Stoppeln. Meine Güte, er kam ihr kaum älter vor als damals unterm Erdbeerbaum. Und nächstes Jahr wurde er fünfzig. Behutsam nahm sie ihm die Lesebrille ab, die er, wie sie wusste, auch dann gern trug, wenn gar nichts zu lesen war – sie verlieh ihm ein so distinguiertes Aussehen. Als ob er solcher Hilfsmittel bedurft hätte. Fernando sah blendend aus, und wenn auch die Haut immer blasser und das Haar grauer wurde, an der Farbe seiner Augen würde sich nichts ändern.
    Erst trafen sich ihre Blicke, Sekunden später ihre Lippen. Ohne einen Ton zu sagen, hob Fernando Jujú hoch und trug sie ins Schlafzimmer. Wie leicht sie war! Sie hatte sich die Figur eines jungen Mädchens bewahrt, trotz der Mutterschaft und trotz ihres Alters. »Aber das stimmt doch gar nicht. Du siehst mich nur nicht mehr so genau an, sonst wüsstest du das«, hatte sie ihm vor einigen Monaten vorgeworfen. Ihre Taille sei dick wie die der Dona Leonor aus dem dritten Stock und ihre Füße so breit wie die einiger der älteren Herren, die sie alltäglich ins Grémio Literário schräg gegenüber gehen sah. Fernando hatte ihr seitdem kein Kompliment mehr über ihr Aussehen gemacht. Hätte er auch nur einen Funken des literarischen Verständnisses der Männer aus dem Club gegenüber gehabt und wäre in der Lage gewesen, seine Huldigungen an ihre Schönheit in die richtigen Worte zu fassen, er hätte für jeden Quadratzentimeter ihres Körpers ein eigenes Gedicht verfassen mögen.
    Ohne Hast entkleideten sie einander, mit der Vertrautheit von Menschen, die sich schon ein Leben lang kannten, und zugleich mit der Neugier und Lust von Frischverliebten. Bei ihrem Liebesspiel war es ähnlich. Obwohl ihnen keine Vorliebe des anderen fremd war und sie ihre Körper und Reaktionen bis ins letzte Detail kannten, kehrte niemals Routine ein. Nie wurden sie es müde, einander mit allen Sinnen zu erkunden, nie wurde es ihnen langweilig, sich voller Hingabe mit dem anderen zu beschäftigen und ihm größtmögliche Lust zu verschaffen. Die Gier und die Eile der ersten Jahre, die von dem Wunsch nach spontaner Befriedigung lang angestauter Bedürfnisse geprägt waren, waren einer besonnenen Zärtlichkeit gewichen, die deswegen nicht minder leidenschaftlich war. Im Gegenteil: Je mehr Zeit sie sich ließen, desto

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