So weit der Wind uns trägt
wenig später hörte Laura aufgeregtes Füßetrappeln und Geflüster. Der Vorhang zum Küchentrakt schob sich ein wenig beiseite. Laura sah das Mondgesicht ihres einstigen Kindermädchens, Aninha, die nun ausschließlich zu Paulinhos Pflege abgestellt worden war. Endlich wurde der Vorhang ganz geöffnet. Feierlich schritten die Köchin und Aninha ins Esszimmer, summten die Melodie eines Geburtstagsliedchens und trugen eine kleine Schokoladentorte vor sich her.
»Herzlichen Glückwunsch!«, riefen die beiden im Chor und umarmten Laura innig. Aninha gab Laura ein Messer, ließ sie ein Stück von dem Kuchen abschneiden und steckte mit entschuldigendem Blick eine kleine Kerze hinein. »Wir hatten keine elf mehr.« Sie zündete sie an, gab Laura einen Kuss auf die Wange und verschwand dann wieder zusammen mit der Köchin hinter dem Vorhang.
Lauras Blick verlor sich in der Flamme. Nach wenigen Minuten war das dünne Kerzchen heruntergebrannt. Sie zog den Wachsstummel aus dem Kuchen. Rund um das Loch, in dem die Kerze gesteckt hatte, war die Schokoladenglasur geschmolzen. Laura saß mit krummem Rücken auf dem Stuhl, die Arme auf dem Schoß verschränkt, den Kopf gebeugt. Sie starrte auf das Loch in dem Tortenstück und kämpfte gegen ihre Tränen an. Nicht einmal an genügend Kerzen war gedacht worden.
Sie weidete sich an ihrem Leid. Das war noch nie vorgekommen, dass sie an ihrem Geburtstag allein am Frühstückstisch sitzen musste! Sonst waren ihre Eltern immer schon vor ihr auf gewesen, hatten die Tafel mit Blumen oder Zweigen oder Pinienzapfen verziert, hübsch verpackte Geschenke um Lauras Platz herum deponiert und das Geburtstagskind mit einem Ständchen begrüßt. Laura hatte sich immer für die scheußliche Singstimme ihres Vaters geschämt – doch diesmal hätte sie nichts lieber gehört als seine schief vorgetragenen musikalischen Glückwünsche. Alles war besser als das geschäftige Klappern von Geschirr, das aus der Küche drang.
Um kurz vor acht erschien eine weitere Person am Frühstückstisch: ihr Bruder. Er schleifte eine Schmusedecke hinter sich her und sah sehr verschlafen aus. Doch an ein Geschenk hatte er gedacht. Er trug ein kleines Päckchen, das wunderschön verpackt war, in hübschem Papier und mit einer dicken Schleife darauf. Wahrscheinlich hat Aninha es für ihn verpackt, schoss es Laura durch den Kopf. Aber egal. Dass ausgerechnet ihr dummer kleiner Bruder an ihren Geburtstag gedacht hatte, rührte sie dann doch irgendwie.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er schüchtern. Paulo fürchtete sich vor seiner Schwester, besonders wenn sie so ein Gesicht machte wie jetzt.
»Danke.« Laura nahm das Päckchen entgegen, als enthielte es einen toten Frosch, und legte es vor sich auf den Tisch.
»Mach auf, mach auf!«, quengelte Paulinho.
Sie wollte ihn keineswegs merken lassen, wie gespannt sie auf das Geschenk war, auch wenn sie sich denken konnte, dass es sich dabei eher um Kinderkram als um ein richtiges Präsent handelte. Provozierend langsam löste sie die Schleife von dem Päckchen, um es dann übervorsichtig aus dem Papier zu wickeln. Zum Vorschein kam eine unscheinbare Pappschachtel. Laura schüttelte sie, hielt sie sich ans Ohr und versuchte zu erraten, was darin sein mochte. Paulinho hüpfte aufgeregt vor ihr herum. Sie fand ihn plötzlich sehr süß, und sie ließ sich zu einem Lächeln herab. Dann widmete sie sich wieder der Schachtel. Sie öffnete sie und konnte zunächst den Inhalt nicht identifizieren. Erst als sie den Gegenstand herausnahm, erkannte sie, um was es sich handelte: eine Fahrradhupe! Sie starrte ihren Bruder entgeistert an.
»Eine Hupe ist das. Sieh mal, man drückt hier auf den Gummiball und …«
Ein ohrenbetäubendes Tröten kam aus der Hupe. Paulinho lachte und hüpfte fröhlich im Esszimmer herum.
»Lass das. Gib sie her, sie gehört jetzt mir.« Laura riss ihrem Bruder die Hupe weg. Dessen frohes Gesicht verzog sich sofort zu einer ängstlichen Grimasse.
»Du Blödmann! Was soll ich mit einer Fahrradhupe, wenn ich kein Fahrrad habe?« Sie drückte wütend auf den Gummiball. Tröt, tröt, tröööööt! Heulend rannte Paulinho davon. Dass das beste Geschenk, das er jemals für Laura gehabt hatte – und bei dessen Kauf Mamã ihm geholfen hatte –, so verschmäht wurde, war einfach nicht gerecht.
Eine Etage höher erwachte Rui aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. In seliger Ahnungslosigkeit um die Dramen, die sich unten abspielten, zog er sich die
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