So weit die Wolken ziehen
wuschen sich den Kohlenstaub ab. Ein paar junge Frauen brachten auf einem Handkarren zwei große Kannen mit heißem Milchkaffee und zehn Brotlaibe ins Haus.
»Trocken Brot macht Wangen rot«, sagte eine der Frauen und lachte.
»Haben Sie auch die armen Menschen in den gestreiften Anzügen gesehen?«, fragte Anna.
»Ach, das sind bestimmt welche aus dem Lager gewesen. Arbeitsscheue Elemente, wisst ihr.«
»Bitte gehen Sie jetzt«, sagte Frau Krase.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ist doch nichts Neues«, sagte sie und zog die Tür hinter sich zu.
Es war noch keine neun Uhr, als die Mädchen schon zum Schlafen ins Stroh gekrochen waren. Schwester Nora hatte alle verarztet, die von der Krätze befallen waren. Es schien den Mädchen etwas besser zu gehen. Die Schwefelsalbe des Oberstabsarztes schien ihre Wirkung zu tun. Anna war immer noch aufgewühlt von dem, was sie auf dem Schiff gesehen hatte. Sie ging zur Tür und schaute hinaus. Schwarze Wolkenfetzen wurden von einem starken Wind am Mond vorübergetrieben. Sie lehnte sich gegen die Hausmauer und hielt nach den Sternen Ausschau.
Nach ein paar Minuten kam auch Frau Lötsche aus dem Haus. »Na, Anna, kannst du auch nicht schlafen?«
»Ach, Frau Lötsche, ich werde die schrecklichen Bilder von den ausgemergelten Gestalten nicht los. Wie brutal die Wachen mit denen umgegangen sind.«
Frau Lötsche schwieg. Sicher, sie hatte ab und zu von den Konzentrationslagern gehört. Aber waren das nicht Gerüchte, die von Feinden des Staates verbreitet wurden? In den letzten zwei Jahren hatte sie sich immer öfter Fragen gestellt, die den Krieg betrafen. Sie wollte nicht daran glauben, dass Deutschland, ihr neues Deutschland, der Kriegstreiber gewesen war. Immer hatte sie trotz der fürchterlichen Niederlagen an allen Fronten auf ein Wunder, auf eine Wunderwaffe gehofft. Aber spätestens das, was sie vor wenigen Stunden mit eigenen Augen gesehen hatte, ließ ihr heiles Bild von Deutschland rissig werden.
»Haben Sie das gewusst, das mit den Menschen in den Lagern, Frau Lötsche?«, fragte Anna.
Die Lehrerin zögerte. »Manchmal ahnt man, dass wohl nicht alles so ist, wie man es sich ausgemalt hat, Anna. Aber was wir vorhin gesehen haben, hätte ich nie für möglich gehalten. Und ich bin sicher, wenn unser Führer das wüsste, er würde die, die das angerichtet haben, zur Rechenschaft ziehen.«
Sie drehte sich um und ging ins Haus zurück. Anna sah ihr nach. Hatte sie sich getäuscht oder hatte Frau Lötsche geweint? Oder war es nur das Mondlicht gewesen, das ein Glitzern auf ihr Gesicht gemalt hatte?
Schon um sieben Uhr in der Frühe machte sich Dr. Scholten auf den Weg zum Hafen. Er trug etwas unter dem Arm. Es war sorgfältig in ein Handtuch eingeschlagen. Die Emma III hatte schon abgelegt und die Kaiserin Elisabeth lag an der Kaimauer unter Dampf.
»Hallo, Schiffsführer«, rief er.
Kuronew beugte sich aus dem Führerhaus. »Was gibt’s?«
»Wie steht es mit uns? Nehmen Sie uns mit bis Linz?«
Kuronew brummte unwillig.
»Ich könnte Ihnen diesmal die Passage bezahlen«, bot Dr. Scholten an.
»Was soll ich mit Reichsmark anfangen? Die wird mehr und mehr zum wertlosen Spielgeld. Wenn Sie mit Schweizer Franken bezahlen könnten, ja, dann ließe ich mit mir reden.«
»Schweizer Franken hab ich nicht. Aber hier, in dem Handtuch, hab ich was mitgebracht, das Sie interessieren wird.«
»Kommen Sie an Bord. Sie machen mich neugierig.« Er kletterte behände die Außenleiter auf das Deck herunter und sagte: »Na, dann lassen Sie mal sehen.«
Dr. Scholten schlug das Handtuch zurück und zeigte ihm ein Radio. »Das ist kein einfacher Volksempfänger«, prahlte er. »Das ist ein Radio Marke Mende, ein Spitzengerät. Sie können alle Sender Europas damit empfangen.«
»Auch BBC London?«, fragte der Schiffsführer und schaute Dr. Scholten lauernd an.
»Ich weiß es nicht. Aber eigentlich müsste auch die BBC reinzukriegen sein.«
»Nicht dass ich verbotene Sender hören will, Herr Doktor. Aber es interessiert mich ja doch, was in dem Kasten drinsteckt. Wo haben Sie ihn eigentlich her?«
»Das bleibt mein Geheimnis.« Dr. Scholten dachte mit Unbehagen daran, dass er das Radio aus dem Büro des Schuldirektors gestohlen hatte. Auf ein Blatt Papier hatte er geschrieben: Sehr geehrter Herr Direktor, mit Ihrem Radio kann ich vielen Schülerinnen und mehreren Lehrerinnen das Leben retten. Sollten Sie irgendwann nach Kriegsende die Schule wieder leiten, melden Sie bitte
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