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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Verteidigungslinie aufzubauen.
    Nach einem kurzen Frühstück hatte Dr. Scholten angeordnet, dass der Unterricht in den Kellerräumen stattfinden sollte. Die Stühle wurden hinuntergetragen, aber an einen Unterricht wie sonst war nicht zu denken. Alle warteten ängstlich darauf, dass die Amerikaner endlich kamen. Gegen elf Uhr öffnete Dr. Scholten die Tür zur Straße hin. Flüchtlinge aus Ungarn zogen vorbei.
    »Wohin?«, fragte Dr. Scholten.
    Ein Junge zeigte zum Wald hin. »Verstecken«, sagte er.
    Das letzte Gespann hielt vor dem Schloss. Eine alte Frau half einer jüngeren, die schwerfällig vom Karren kletterte. Die beiden blieben vor der untersten Stufe der Freitreppe stehen. Die jüngere presste die Hände auf den Bauch. Sie war hochschwanger.
    »Muss bleiben. Jesus, Maria, Josef«, sagte die alte Frau. »Heißt Katalin. Mehr weiß ich nicht. Haben sie unterwegs aufgelesen.«
    Sie ging zum Wagen zurück. Eigentlich wollte Dr. Scholten sagen: »Das geht nun wirklich nicht.« Er wusste nicht, was er tun sollte. Aber da kam Schwester Nora aus dem Haus.
    »Die Frau muss ins Krankenzimmer«, sagte sie. »Sag den anderen vorerst noch nichts. Ich melde mich, wenn ich Hilfe nötig habe.«
    Als er hineinging, entdeckte Dr. Scholten, dass das Schild, das er an der Tür befestigt hatte, abgerissen worden war. Er eilte in den Keller, nahm ein Stück Kreide und sagte zu Anna: »Komm mit.« Er lief vor ihr her bis zur Tür. »Weißt du noch, was du gestern in Englisch geschrieben hast?«
    Anna nickte.
    »Schreib das noch einmal groß mit der Kreide auf das Holz der Tür. Das Schild ist weg.«
    Anna schrieb in Blockbuchstaben HIGHSCHOOL FOR GIRLS COMING FROM THE RHINE-DISTRICT.
    Das Gegrummel der Artillerie hatte sich inzwischen auf Linz zu verlagert und war leiser geworden. Die Mädchen durften die Kellerräume verlassen, sollten sich aber nicht außerhalb des Hauses aufhalten. Gegen fünf Uhr hörten sie ein Stöhnen und Schreien aus dem Krankenzimmer. Dr. Scholten nannte dem Kollegium und den Mädchen den Grund dafür. Als Schwester Nora die Tür öffnete, lungerten viele neugierig auf dem Flur herum.
    »Schickt die Anna herein«, sagte sie.
    »Anna hier, Anna da«, sagte Irmgard verärgert. »Als ob es keine anderen Mädchen hier gäbe.«
    Auch Dr. Scholten war erstaunt. »Nicht doch besser jemand von den Kolleginnen?«
    »Ich habe Anna gesagt. Als Lydia sich in Maria Quell den Arm gebrochen hatte, war sie die Einzige, die einen klaren Kopf behalten hat. Also bitte.«
    Ein Knochenbruch ist ja wohl etwas anderes als eine Geburt, dachte Dr. Scholten.
    Als Anna kam, fragte er sie: »Stehst du das durch?«
    Anna schaute ihn an. »Ich war schon zweimal dabei.«
    »So?« Er schien ihr nicht zu glauben.
    »Sicher«, bestätigte sie. »Bei meiner Schwester Lydia und bei mir selbst.«
    Sie ging ins Krankenzimmer. Es blieb ihr gar keine Zeit zu überlegen, ob sie wirklich helfen konnte. Schwester Nora gab ihr kurze, genaue Anweisungen. Es verging keine halbe Stunde, da war der neue Erdenbürger geboren. Schwester Nora hielt den Jungen und sagte: »Gut gemacht, Anna Mohrmann. Schneide die Nabelschnur durch.«
    Annas Hand zitterte, als sie die Schere nahm. Aber sie schaffte es.
    »Gesund?«, fragte die Mutter ängstlich.
    »Zehn Finger, zehn Zehen, alles da. Wiegt ungefähr drei Kilogramm«, sagte Schwester Nora. »Und wie Sie hören, eine kräftige Stimme hat der Junge auch.« Sie wusch der Mutter den Schweiß von Gesicht und Hals und legte ihr das Kind auf den Bauch.
    Die Mutter lächelte glücklich. »Mein erstes Kind«, sagte sie. »Soll Stepan heißen.«
    Als der Säugling gewaschen und gewickelt war, setzten sich die beiden Hebammen erschöpft auf die Liege.
    »Na, Anna«, fragte Schwester Nora, »was geht dir durch den Kopf?«
    Anna antwortete nicht gleich. »Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich jedes Jahr an meinem Geburtstag meiner Mutter einen Blumenstrauß schenken.«
    Die Schwester schaute Anna lange an. Sie war gerührt.
    »Ich habe es dir schon einmal angeboten, Anna, wenn du je vorhast, Ärztin zu werden, dann sprich mit mir. Ich habe gute Kontakte. Ich werde deine beste Fürsprecherin sein. Nun geh und gib die gute Botschaft von der glücklichen Geburt weiter.«
    Aber im Flur war niemand mehr. Aus der Halle drang ein gedämpftes Gemurmel. Sie ging hin und erstarrte. Die Mädchen drückten sich an die Wände. In der Tür standen vier amerikanische Soldaten. Die beiden größten waren Schwarze. Sie hielten

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