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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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weißer Stoff genäht, auf dem mit Wäschetinte in kleinen Buchstaben geschrieben stand: Ruth Zarski, einer treuen Freundin in schwerer Zeit. Frau Salomon. Maria Quell, März 1945.
    In dieser Nacht fand Dr. Scholten keinen Schlaf. Er hatte einen Sessel aus dem Aufenthaltsraum holen lassen und saß, eingewickelt in eine Wolldecke, Stunde um Stunde in der Nähe des Eingangs. Viermal musste er seine wenigen Englischkenntnisse zusammensuchen, um amerikanischen Soldaten klarzumachen, dass das Schloss Off limits sei. Irgendwie gelang ihm das wohl, denn keiner versuchte, mit Gewalt einzudringen.
    In den nächsten Tagen überschlugen sich die Kriegsereignisse. Jeden Mittag teilte Dr. Scholten die Neuigkeiten mit. Zug um Zug gab die Deutsche Wehrmacht ihren Widerstand auf. In den Niederlanden, in Dänemark, in ganz Nord- und Westdeutschland schwiegen nach so vielen Jahren die Waffen. Am Montag, den 7. Mai, unterschrieb Generaloberst Jodl die Urkunde der bedingungslosen Kapitulation. Am 8. Mai war der Krieg zu Ende.
    Am 9. Mai, kurz nach acht Uhr, meldete der Sender Flensburg, dass die Kampfhandlungen nach fast sechs Jahren überall eingestellt worden waren.
    Die Mädchen hörten die Meldung im Speisesaal. Noch einmal erklang die erste Strophe des Deutschlandlieds. Im Saal blieb alles still, bis ein Mädchen zum Kollegiumstisch hinüberrief: »Wir haben Hunger.«
    »Wir haben seit Tagen nichts mehr geliefert bekommen«, sagte Dr. Scholten. »Unsere Vorräte gehen zu Ende. Ich werde mit der Militärverwaltung verhandeln. Sie können uns doch nicht verhungern lassen.«
    Großen Erfolg hatten seine Bemühungen nicht. Ein neuer Bürgermeister war eingesetzt worden, aber dessen Befugnisse waren beschränkt. Immerhin erreichte er, dass zwei Zentner Kartoffeln und ein paar Brote zum Schloss gebracht wurden.
    Am Samstag nach der Kapitulation sagte Dr. Scholten: »Ich habe vor Wochen mit dem Pfarrer eine Abmachung getroffen. Wenn wir hier nicht weiterwissen, will er so predigen, dass die Leute im Ort auf uns aufmerksam werden. Er will sie daran erinnern, dass Christen dazu aufgerufen sind, mit denen zu teilen, die in Not sind.«
    »Und dann werden sie in Scharen herbeieilen und uns von ihren Vorräten abgeben«, spottete Frau Wisnarek.
    »Das wohl kaum, Frau Wisnarek«, gab Dr. Scholten zu. »Wir werden uns schon aufmachen müssen und an ihre Türen klopfen.«
    »Sie wollen die Schülerinnen zum Bettelpack machen?«
    »Nicht ich will sie losschicken und um Lebensmittel bitten lassen. Es sind die Umstände, die uns dazu zwingen.«
    An diesem Tag redeten sich Lehrerinnen und Schülerinnen die Köpfe heiß.
    Am Sonntag gingen fast alle Mädchen zur Kirche. Die meisten machten sich nur deshalb auf den Weg, weil sie hören wollten, was der Pfarrer predigte.
    Er hielt das Versprechen, das er Dr. Scholten gegeben hatte, und erzählte, wie seine Geschwister und er als Kinder in Tirol zu Bettlern geworden waren.
    In der Kirche wurde es vollkommen still. Der Pfarrer, der mit seiner Haushälterin allein in einem großen Haus wohnte, vor dem alle den Hut zogen, der vielen ziemlich fremd geblieben war, dieser Pfarrer war also doch einer von ihnen, hatte die Nöte der kleinen Leute selbst erfahren. Von diesem Tage an war er nicht mehr der Herr Pfarrer, sondern unser Pfarrer.
    Als am Montag jedem Mädchen zum Frühstück nur eine dünne Scheibe Brot zugeteilt werden konnte, fegte Dr. Scholten auch die letzten Bedenken beiseite und entschloss sich, die Kinder zum Betteln zu schicken. In kleinen Gruppen, jeweils zu dritt, sollten die Mädchen losziehen. Frau Krase hatte einen Plan gemacht, nach dem jede Gruppe an höchstens zehn Häusern anklopfen sollte. Sie hatte den Kindern eingeschärft, höflich darum zu bitten, ihnen etwas zu essen zu geben, weil die Vorräte im Schloss erschöpft seien.
    »Ihr dürft ruhig sagen, dass ihr Hunger habt.«
    »Und wenn wir abgewiesen werden?«, fragte Ruth.
    »Dann seid besonders freundlich und geht weiter. Wer weiß, vielleicht ist die Familie arm und hat für sich selbst nicht genug zu beißen.«
    Gegen neun Uhr brachen die Gruppen auf. Manche hatten ihren Rucksack bei sich, andere trugen einen Korb oder eine Tasche. Um zwölf Uhr spätestens sollten alle wieder im Schloss sein.
    Drei Gruppen kehrten schon vor zehn Uhr zurück. Ein Bauer hatte damit gedroht, seinen Hund auf sie zu hetzen, wenn sie sich nicht schleunigst von seinem Hof machten. Und die Bäuerin hatte sie angespuckt und geschrien: »Gebt mir meine

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