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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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Maschinenpistolen in den Händen. Keines der Mädchen hatte zuvor je einen Schwarzen zu Gesicht bekommen, wohl Fotos. In der Zeitung war Joe Louis abgebildet worden, den Max Schmeling k. o. geschlagen hatte. Und auf Hochglanzfotos von der Olympiade 1936 war der schwarze Amerikaner Jesse Owens, der Liebling der Spiele, zu sehen. Aber das waren eben nur Bilder. Und jetzt standen sie da, wachsam zwar, aber doch freundlich, mit Kaugummis zwischen den Zähnen. Ein kleinerer hellhäutiger Offizier trat einen Schritt vor. Hinter ihm stand ein schmächtiger Weißer. Die beiden Schwarzen mit den Maschinenpistolen blieben an der Tür stehen. Der Offizier sagte leise ein paar Sätze. Der Dolmetscher übersetzte: »Der Captain möchte wissen, wer die Bewohner des Hauses sind.«
    Dr. Scholten antwortete: »Unser Lehrerkollegium, sieben Personen, außerdem eine Rotkreuzschwester und zweiundfünfzig Mädchen einer Oberhausener Mädchenoberschule.«
    »Keine deutschen Soldaten?«
    »Nein.«
    »Sonst niemand?«
    Schwester Nora stieß Dr. Scholten mit dem Ellenbogen an und deutete zum Krankenzimmer hinüber.
    »Doch. Heute Nachmittag ist eine ungarische Flüchtlingsfrau ins Haus gekommen. Sie hat vor etwa einer Stunde einen Jungen geboren.«
    »Gut. Der Captain will das Haus inspizieren.«
    Die vier Amerikaner ließen sich Zeit und gingen durch alle Räume. Der Offizier schien sich allerdings mehr für die Ahnengalerie in den schweren Goldrahmen zu interessieren als für die lebenden Personen. Er ordnete an, die Rotkreuzfahne einzuziehen. Die Deutschen hätten zu viel Schindluder damit getrieben und sie oft nur zur Tarnung benutzt. Keine Person im Schloss dürfe das Gebäude in den nächsten Tagen verlassen.
    Dann ging der Offizier, flankiert von den Soldaten, langsam an der Reihe der Mädchen entlang, schaute jedes aufmerksam an und als er schon wieder an der Tür war, sagte er leise etwas zu einem der Soldaten. Der grinste und rief: »Yes, Sir.« Dann marschierte er hinaus und kam wenig später mit einem kleinen Karton zurück, den er mitten in die Halle stellte.
    »Das ist für Sie alle«, sagte der Dolmetscher. »Sie werden von der Militärverwaltung ein Schild mit der Aufschrift OFF LIMITS erhalten. Bringen Sie das am Tor an. Kein Soldat wird dann das Haus betreten.«
    Der Offizier sagte nun selbst in deutscher Sprache: »Guten Abend.« Dann verließ er das Haus. Seine Begleiter folgten ihm. Die Soldaten winkten den Mädchen beim Hinausgehen zu.
    »Waren das die Negerbestien?«, fragte ein Mädchen aus der Unterklasse verwundert.
    »Pst. Bist du wohl still«, fuhr Frau Wisnarek sie an.
    Das Päckchen wurde geöffnet. Zehn Schokoriegel kamen zum Vorschein.
    »Wir werden doch von unseren Feinden keine Geschenke annehmen! Das verbietet uns unser Stolz«, rief Frau Lötsche. Einige Mädchen begannen zu murren. Wütend ging die Lehrerin zu dem Päckchen und begann, mit ihren Stiefeln auf der Schokolade herumzutrampeln. Dann hockte sie sich hin, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Die Mädchen schauten sie ratlos an. Frau Lötsche, die nie eine Schwäche gezeigt hatte, die nie einen Zweifel am Endsieg Deutschlands zugelassen hatte, die fest überzeugt gewesen war von Deutschlands großer Zukunft. Auch Dr. Scholten und die Kolleginnen standen hilflos in der Halle. Schließlich ging Frau Krase zu ihr, beugte sich hinunter und sagte leise: »Komm, Karin, ich bringe dich in dein Zimmer.« Sie hakte sich bei ihr ein und verschwand mit ihr in dem dunklen Flur.
    In der Mitte der Halle lag die Schokolade, zertrampelt in lauter kleine braune Splitter.
    Irmgard holte eine Kehrschaufel aus der Küche. Einen Augenblick lang war sie versucht, sich ein paar Stückchen in den Mund zu stecken, aber sie tat es dann doch nicht. Sie warf alles in die Abfallgrube am Ende des langen Salatbeets.
    »Komm sofort zurück, Irmgard!«, rief Ruth ihr hinterher.
    Irmgard hatte vergessen, dass sie das Haus nicht verlassen durfte. Sie begann zu rennen. Aber weit und breit war kein Amerikaner zu sehen.
    Ruth fiel das flache Päckchen wieder ein, das sie von Frau Salm bekommen hatte. Es hatte sie schon oft gelockt nachzuschauen, was sich darin befand. Aber sie hatte sich an das gehalten, was Frau Salm ihr eingeschärft hatte. »Erst wenn die Amerikaner da sind«, hatte sie gesagt. Jetzt waren sie da. Ruth riss den Umschlag auf. Sie war enttäuscht. Nur ein sechszackiger gelber Stoffstern kam zum Vorschein. Ein Judenstern. Auf die Rückseite war

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