So will ich schweigen
Angst zu vertreiben suchte. Es war nur ein Traum, und man musste nicht lange nach der Quelle suchen, aus der sein Unbewusstes ihn geschöpft hatte. Seine Sorge um Lally hatte einfach nur die Barriere zwischen Wachzustand und Schlaf durchbrochen.
Auf dem Rückweg zum Pub gestern Abend war sie sehr still gewesen. Sie hatte ihn ignoriert, wie sie auch Leos Spötteleien über Annie ignoriert hatte, und als Leo sich schließlich in Barbridge von ihnen getrennt hatte, da hatte sie ihm noch nicht einmal auf Wiedersehen gesagt.
Sie hatten alle auf sie gewartet: Duncan und Gemma, seine Großeltern, Juliet und Sam, aber niemand hatte irgendwelche Fragen gestellt oder ihn und Lally kritisiert. Doch auf dem Nachhauseweg, und auch später, als sie die Putensandwiches aßen, die Rosemary zum Abendessen gemacht hatte, hatten die Erwachsenen sich über alles Mögliche unterhalten, als ob gar nichts passiert wäre. Kit begriff, dass sie damit die Kinder beruhigen wollten, aber es hatte ihm nicht geholfen und Lally, wie er annahm, auch nicht.
Nach dem Abendessen war ein Freund von Hugh vorbeigekommen und mit Juliet in die Küche gegangen, um mit ihr zu sprechen, und obwohl niemand es gesagt hatte, vermutete Kit, dass der Mann Anwalt war.
Rosemary scheuchte alle anderen ins Wohnzimmer, wo sie sich vor dem Kamin zu einem Scrabble-Turnier versammelten, aber nach einer Weile begann Lallys Blick vom Brett abzuschweifen, wenn sie nicht an der Reihe war, und schließlich verschwand sie und kam nicht mehr zurück. Kit konnte sich auch nicht mehr auf das Spiel konzentrieren, und nachdem Hugh ihn und Gemma haushoch geschlagen hatte, entschuldigte er sich und schlich ebenfalls aus dem Zimmer.
Aus der Küche war immer noch das Gemurmel der Stimmen zu hören; die des Mannes tief und ruhig, die seiner Tante Juliet auf- und abschwellend wie die Brandung am Strand. Leise war er die Treppe hinaufgeschlichen und hatte gesehen, dass die Tür von Hughs Arbeitszimmer, wo Lally letzte Nacht mit ihrer Mutter geschlafen hatte, halb offen stand.
Er hatte sich nicht überlegt, was er sagen wollte, sondern einfach nur die Tür aufgestoßen. Lally saß auf dem Fußboden, mit dem Rücken zum Bettsofa, den linken Ärmel ihres Sweatshirts bis über den Ellbogen hochgekrempelt. Sie zog gerade ein Pflaster von der Innenseite ihres Unterarms ab, und unter der weißen Gaze quoll hellrotes Blut hervor.
Dann entdeckte er oberhalb des Pflasters einen schorfig verheilten Schnitt – einen horizontalen Schlitz in der weißen Haut, und darüber noch einen, und noch einen, violette Narben, schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogen.
»Lally, was tust du da?«, schrie er, seine Stimme schrill vor Entsetzen.
Sie zog den Ärmel des Sweatshirts mit einem Ruck herunter. »Nichts. Klopft man bei euch nicht an?«
»Ich hab ja nicht gewusst …« Er schüttelte den Kopf. »Das spielt doch keine Rolle. Lass mich sehen, was du mit deinem Arm gemacht hast.«
»Das ist nur ein Kratzer. Das geht dich nichts an, Kit.« Sie verschränkte die Arme fest unter ihren kleinen Brüsten.
»Von wegen, nur ein Kratzer. Ich hab’s doch gesehen«, beharrte er. »Du hast dich geschnitten, und zwar mehr als einmal.«
Sie funkelten einander böse an, keiner wollte nachgeben, bis sie schließlich beiläufig mit den Schultern zuckte. »Na und?«
Kit, der auf dieses ungeheuerliche Geständnis nicht vorbereitet war, konnte sie nur ungläubig anstarren. »Aber das kannst du doch nicht machen. Du kannst dir doch nicht selbst wehtun.«
»Wieso nicht?« Sie lächelte, schwang sich nach vorn auf die Knie und reckte trotzig das Kinn in die Höhe. »Wehe, du erzählst es weiter.«
»Davon kannst du mich nicht abhalten«, erwiderte er. Seine Wut und seine Angst machten ihn unbesonnen.
»O doch, das kann ich.« Ihre dunklen Augen fixierten ihn drohend. »Denn wenn du mich verrätst, werde ich noch etwas viel, viel Schlimmeres tun, und es wird deine Schuld sein.«
Die Erinnerung trieb Kit aus dem Bett, doch er bewegte sich leise, um Toby nicht zu wecken, als er in seine Kleider schlüpfte. Der Reisewecker auf dem Schreibtisch war zwar am Tag zuvor stehen geblieben, weil die Batterie leer war, doch die Qualität des Lichts und die absolute Stille im Haus verrieten ihm, dass es noch früh war, vielleicht erst kurz nach Tagesanbruch.
Er wusste, dass er die anderen jetzt nicht ertragen könnte, dass er Lally nicht am Frühstückstisch gegenübersitzen und so tun könnte, als sei alles in Ordnung.
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