So will ich schweigen
für aufhebenswert befunden hatte.
Eine ledergebundene Fächermappe enthielt sorgfältig geordnete Kreditkarten- und Handyrechnungen sowie die vierteljährlichen Auszüge diverser Investmentfonds. In einem anderen Fach fand sie ein persönliches Adressbuch, ebenfalls in Leder gebunden.
Unter dem vorderen Deckel des Büchleins steckten ein halbes Dutzend lose Fotos. Alle zeigten das Boot, und nach der Vegetation im Hintergrund zu schließen, waren sie alle im Frühling oder Sommer entstanden. Doch nur eines davon zeigte das Opfer.
Annie Lebow stand am Ruder; ihre rechte Hand ruhte leicht auf dem Ende der S-förmigen Ruderpinne. Ihre nackten Arme und Beine sahen braun gebrannt aus, ihre Züge entspannt, mit dem Anflug eines Lächelns in den Mundwinkeln. Es schien Sheila, als habe Annie die Person, die das Foto gemacht hatte, mit einer Art nachsichtiger Sympathie betrachtet.
Das Foto war nicht datiert, doch Sheila schätzte, dass es einige Jahre alt war; vielleicht aufgenommen, als Lebow das Boot gerade gekauft hatte. Ihr Haar war damals länger und dunkler gewesen, ihre Gesichtszüge weicher, weniger markant, und je länger Sheila das Foto betrachtete, desto mehr glaubte sie eine Art zaghaften Stolz in der Art zu erkennen, wie die Frau das Ruder hielt.
Sheila warf einen letzten Blick auf das Foto, verzog das Gesicht und klappte das Adressbuch zu. Sie hatte Annie Lebows Leiche gesehen, hatte das Entsetzen und die Wut empfunden, die sie am Tatort eines Mordes stets überkamen. Sie hatte die Kleider und die intimsten Gegenstände der Frau durchwühlt, und immer noch war es ihr gelungen, eine gewisse Distanz zu dem Opfer zu wahren. Man konnte lernen, diese Dinge zu trennen, und sie gab sich alle Mühe, es weiterhin zu tun – in ihrem Job war das eine schiere Notwendigkeit.
Aber als sie auf dem Foto in Annie Lebows Augen geblickt hatte, da hatte sie eine Verbindung zu ihr gespürt. Aus dem zusammengesunkenen Körper am Wegrand war eine Frau geworden, die gelebt und gearbeitet, geschlafen und geträumt hatte, die diese engen Kabinen bewohnt hatte, so wenige Spuren sie auch darin hinterlassen haben mochte. In diesem Augenblick der Nähe, über Zeit und Raum hinweg, war Annie Lebow für Sheila wirklich geworden, ihr Tod hatte eine persönliche Bedeutung für sie gewonnen.
Sie trug Stiefel, Hosen und eine dicke Wolljacke, doch selbst auf die Entfernung und ohne die Uniform konnte er erkennen, dass sie Polizistin war. Es war irgendetwas an der Art, wie sie sich bewegte – selbstsicher und zugleich stets wachsam -, das sie so eindeutig identifizierte wie ein Brandzeichen.
Während er auf dem Boot umherging, von einer kleinen Arbeit zur nächsten, beobachtete er sie heimlich. Sie war aus der Richtung des Tatorts den Leinpfad heruntergekommen, und nachdem sie einem der uniformierten Beamten, die auf dem Parkplatz Wache standen, ein Päckchen übergeben hatte, klingelte sie an den Türen der Häuser, die den Kanal unterhalb von Barbridge säumten.
Als die Frau mit den krausen Haaren und dem rosa Bademantel herauskam und mit ihr redete, stieg erstmals Panik in ihm auf und schnürte ihm die Kehle zu. Es kostete ihn eine ungeheure Willensanstrengung, sich einfach nur ruhig zu verhalten, sich auf das zu konzentrieren, was die Ärztin ihm gesagt hatte. Einfach davonzulaufen war keine Lösung. Er konnte seine Familie und sein Boot nicht tarnen oder verstecken, und auf dem Cut kannte jeder jeden. Schon einmal hatte die Angst ihn dazu getrieben, die Daphne in die Industrieslums von Manchester zu steuern, aber die Zeiten hatten sich geändert. Auch die innerstädtischen Abschnitte des Kanals wandelten
sich, nachdem immer mehr Lagerhäuser zu »Luxusresidenzen mit Wasserblick« umfunktioniert wurden. Und damals war auch niemand hinter ihm her gewesen.
Die Frau in dem rosa Bademantel gestikulierte, und selbst auf die Entfernung konnte er ihre laute Stimme hören. Die Worte musste er nicht verstehen. Er beugte sich über den Halteriemen, den er reparierte, hielt den Blick gesenkt und pfiff leise durch die Zähne. Der weiche Rasen des Uferpfads dämpfte alle Schritte, doch er musste sie nicht hören, um zu wissen, welchen Weg die Polizistin eingeschlagen hatte. Als kurz darauf eine Stimme »Mr. Wain?« rief, blickte er mit gespielter Überraschung auf.
Sie stand am Ufer, auf Höhe des Bugs. Aus der Nähe konnte er sehen, dass sie recht attraktiv war, mit einem hübschen, etwas stupsnasigen Gesicht und auch ein wenig älter,
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